Das aufsässige Organ des Kai Althoff
Vor 30 Jahren lachte sich der auch schon ziemlich in die Rezeptionsjahre gekommene Eugène Ionesco in seinem Prosatext „Der Einzelgänger“ einen ab, als er seinem sich gerade mit der ökonomischen Rezession vertraut machenden oder sogar schon von ihr eingeholten Leser vor den Kopf warf: „Je mehr man arbeitet, desto mehr Dinge gibt es.“ Diesen Satz konnte man damals und vor allem aus dem Mund des Dichters aus Absurdistan natürlich nur katastrophisch verstehen. Wenn sich die Dinge bei Ionesco vermehren, dann sollte man schleunigst nach der Planierraupe rufen, die jene entsorgt, denn in der ionescoschen Proliferation steckt der nackte Idiotismus. Wer will, kann darin natürlich auch den Segen der kapitalistischen Produktion sehen, denn wer hat, der hat, ob er dafür nun mehr oder weniger gearbeitet hat. Heute besitzt der obige Satz nur noch musealen Wert, was einschließt, dass er sich mit solchen vergleichen lässt, die einen ähnlichen Duktus oder Humor haben.
So konnte man 1999 in Bret Easton Ellis’ Roman „Glamorama“ hier und da den eingängigen Satz lesen: „Je besser man ausschaut, desto mehr sieht man.“ Diejenigen Leser, die nicht so gut ausschauten, durften sich im Laufe des langen Buchs mit der Einsicht tröstend vertraut machen, dass der optische Mehrwert, den der Aphorismus versprach, sich einfach der Paranoia des Models verdankte, und diesen edel-perversen Handschuh wollte sich der Leser dann doch nicht anziehen. Das beste an der Literatur ist halt immer noch ihr Reizschutz. Wahr ist allerdings, dass dieser mehr und mehr ausgehöhlt wird durch die Eindeutigkeit aufgenommener Stimmen, die die oftmals arg verkürzte Literatur direkt dem Ohr verabreichen. Wenn dann also etwa Otto Sander seine einnehmende Stimme zur Verfügung stellt, dann hat sich das Imaginäre die längste Zeit im Sichtbaren aufgehalten und kehrt im Medienwechsel zurück als Kasematten-Hörhöhle, aus der es kein Entrinnen gibt.
Gänzlich ohne Reizschutz, was natürlich auch den besonderen Reiz dieses Ortes ausmacht, ist bekanntlich das Kino. Hier gilt, immer auch mit einem guten Schuss an Selbstillusionismus-Bereitschaft, der Satz: seeing is believing, und wer’s nicht ganz schafft, dem helfen schöne (Synchron-)Stimmen und natürlich die prima Musik. Wer damit durch ist, schaut sich mehr an, im Sinne von: ein bisschen was anderes. Der Reizschutz ist arbeitslos geworden und braucht härtere Kost. Wer sich hier angesprochen fühlt, denkt gerne zurück an die heilsame Zeit des Videoexperiments. Endlich neue Seh- und Hörgewohnheiten – pardon: -erfahrungen, endlich konnte man mal Sachen gnadenlos durchziehen, ohne mit sofortigem Abbruchverhalten auf Seiten des Rezipienten rechnen zu müssen.
Knapp drei Monate nach der ersten Präsentation von „Wer nicht, wenn du“ (2003) von Armin Krämer, Kai Althoff, Abel Auer und Dorota Jurczak in der Berliner Galerie Neu hat nun der Hamburger Kunstverein diesen Videofilm in Hamburg zur (einmaligen) Aufführung gebracht. Der Film wurde zwar im „öffentlichen“ Abaton-Kino gezeigt, aber es war trotzdem ein Heimspiel. Kunststudenten und Künstler sehen einen Kunstfilm über Leute, die Künstler bzw. Musiker werden wollen. Die Botschaft, die der Film, vermittelte, war aber auch für Nichtkünstler nachvollziehbar, denn was lässt sich dagegen sagen, dass man es immer wieder versuchen soll. „Es“, das ist der alte Traum, Sachen zu machen, die einem Spaß bereiten und womit man zugleich auch noch dick Kohle verdienen kann. Oder einfach auch nur dranzubleiben, an der Welt, an den Freunden. Sehr eindringlich zeigte das auch und vor allem mit seiner Stimme Kai Althoff, der den Looser-Part des Looser-Duos Osche und Kirli spielte – nein: exerzierte, herausschrie. Beziehungszumutungen müssen irgendwie gebändigt werden. Dafür gibt es Techniken. Für den Kunstfilm sind Zumutungen (vergleichbar mit den Spannungen des Main-stream-Kinos) immer zugleich solche des Zuschauers. Wenn sich also Osche und Kirli annerven, dann nerven sie auch den Betrachter und vor allem Hörer. Exemplarische Situation des Ausgeliefertseins. Man könnte als Zuschauer gehen, man bleibt sitzen. Stellvertretend handeln die Filmfiguren. Da wird ein Maul, das von Kirli, gestopft. Warum das Maul überhaupt so schrie? Hier wurden einfach mal die Synapsen ein bisschen weiter aufgemacht, deren relative Geschlossenheit sich normalerweise einer gesellschaftlich verordneten Verdrängungsleistung verdankt. Und da wir alle Foucault gelesen haben, wissen wir auch, was dann passiert, wenn die artikulierte Unerträglichkeit auf eben nicht taube Ohren stößt. Die Ruhigstellung. Aber trotz Drogen und Schlafmitteln ist Kirli-Kai Althoff im Grunde seines Herzens jesuanisch, er steht auf, taucht erneut auf, in einem neuen Zusammenhang, aber mit seinem alten Problem, Störfaktor zu sein. Dafür muss er noch mal leiden, aber am Ende ist er wieder da, er ist nicht totzukriegen, und schließlich versuchen es die beiden Jungs und noch zwei weitere, den Kirlischen Überschuss an die Gesellschaft weiter- oder ihn ihr zurückzugeben.
Das alte Programm also: Mit Kunst zieht sich die Gesellschaft an ihrem eigenen Schopf aus dem Sumpf. Die neue (?) Einsicht: Es gibt nur Sumpf. In zweifacher Ausführung: Dreck und Schrott auf der einen Seite, Design und well-made-shit auf der anderen. Wie auch immer. Man muss in jedem Fall an sich arbeiten, damit man besser ausschaut, damit man von anderen angesehen wird, für die man dann vielleicht „das Ding“ ist. Super. Star.
Dieter Wenk
<typohead type=2>Armin Krämer, Kai Althoff, Abel Auer, Dorota Jurczak: Wer nicht, wenn du, D 2003</typohead>