20. Januar 2011

Die Sprache des Heavy Metal

 

Die Musikwissenschaft ist in Bezug auf die Metal Research recht speziell, denn einen Großteil der Musikfachpresse kann man als Quereinsteiger bezeichnen. Keiner verfügt über eine dezidierte musikwissenschaftliche Ausbildung, insofern er oder sie im Rock- und Popmusikbereich arbeitet. Ausnahmen bestätigen die Regel, doch kommt es eher in den Klassik- und Jazz-Genres vor, dass Fachjournalisten eine Quinte von einer Terz oder Dur von Moll unterscheiden können. Doch meist kommt es darauf nicht an: Tonträger und die Urheber – also: die Musiker – interessieren vielmehr als Kulturschaffende und Netzwerkpartizipanten. Dies ein Grund, warum vor allem soziologische Arbeiten zunächst das Feld der Metal Studies heimsuchten. Die Musikologie wurde an einen Rand gedrängt, zumindest werden in den einschlägigen Zeitschriften keine dezidierten Bezugnahmen auf deren Erkenntnisse gepflegt. Die Referenz historischer und kulturwissenschaftlicher Theoreme erfreut sich einer viel größeren Popularität. Reine Spekulation, doch möglicherweise hängt das Profil der deutschsprachigen und auch ausländischen Musikfachpresse von den Studiengängen der Journalisten und ihrer Vorlieben ab. Statt sich der Morphologie der Heavy-Metal-Musik zu widmen, referiert man lieber historische Querverweise zum Klassenursprung und zur Eskalation der Extreme-Metal-Szenen in Skandinavien. Dr. Dietmar Elflein geht einen anderen Weg: In seiner Dissertation, die beim Bielefelder transcript verlag als Monografie im Oktober 2010 erschienen ist, fragt er nach den Morphemen oder Charakteristika (genauer: kleinsten Formen) einer Sprache des Heavy Metals. „Ausgangspunkt der Deduktion der für den Musikstil Heavy Metal spezifischen Regeln ist eine sprachanaloge Strukturierung von Musik. Die Methodik basiert auf dem Regel-Abweichungs-Modell. Ziel ist eine Formulierung des Verallgemeinerbaren eines Musikstils und nicht die Definition der Besonderheiten eines bestimmten Idiolekts.“ (S. 69)

Elfleins These, dass sich Heavy-Metal-Musik durch empirisch ermittelbare Komponenten und Einflüsse aus einem Traditionsstrom populärer Musik speist, weist er anhand beispielhaft ausgewählter Stücke von Bands wie Black Sabbath, Iron Maiden, Judas Priest, Metallica, aber auch Emperor, The Haunted und Arch Enemy nach. Den Hauptteil der Schwermetallanalysen machen musikwissenschaftliche Erörterungen von pulsbasiertem Ensemblespiel aus, was für Outsider schwer nachvollziehbar sein wird oder positiver ausgedrückt: Wer kein Instrument spielt und sich mit dessen Theorie auseinandergesetzt, kann mit den vielen Tabellen, die Dietmar Elflein im Laufe des Buchs aufführt, nur bedingt oder eigentlich gar nichts anfangen. Für die wissenschaftliche Belegführung sind diese Beispiele unerlässlich. Es darf jedoch bezweifelt werden, ob enthusiastische Fans des Heavy Metals und all seiner Sub-Genres Gefallen an diesen Ausführungen finden werden. Kennt man sich mit Musiktheorie nicht aus, werden Sätze wie „Im Falle von Thin Lizzy wird in der Fachpresse ein Einfluss aus der britischen bzw. irischen Folklore auf die Melodiebildung konstatiert, der auch bei Iron Maiden durchscheinen soll. Die Assoziation mit irischer Folklore beruht dabei auf ternären melodischen Wendungen in Kombination mit einem liegenden Puls im Bass. Der Bass bewegt sich meist auf den harmonischen Grundtönen respektive Quinten oder spielt Powerchords. Iron Maiden entfernen sowohl die angeblich typisch irischen Wendungen als auch die Shuffle-Elemente aus diesen Melodien. Sie achten gleichzeitig darauf, dass die Melodien weitgehend frei von rhythmischen und melodischen Blues-Einflüssen bleiben. Der bei Iron Maiden laut Fachpresse gegebene Folkeinfluss beruht auf der Nutzung ternärer Metrik in den zweistimmigen Gitarrenmelodien sowie von Modi als melodische Inspiration“ (S. 237) nur schwer einen Widerhall im Kopf des Lesers verursachen. Dies mindert sicher die Qualität der Aussage nicht, doch richtet sich Elfleins Buch an ein spezielles Publikum, das sich das Spiel auf Musikinstrumenten nicht nur autodidaktisch beigebracht hat. Manche Metalmusiker werden versetzen, dass sie nie nach Noten gelernt hätten und ihre Stücke aus dem Bauch schreiben. Sicher werden im frühen Hardrock Elemente des Blues oder vielmehr Bluesrock gefunden. Dies jedoch nicht aus einer bewussten Entlehnung diverser gitarren- oder schlagzeugspieltechnischer Kniffe, sondern aus einem Hörverhalten der aktiven Musiker. Einflüsse werden bewusst oder unbewusst aufgegriffen und durch Adaption weiterentwickelt. Dem Autor ist natürlich klar, dass Musik nicht (allein) aus der Beherrschung der Terminologie und Technik entsteht.

Elflein kennt die Geschichte des Metals und seiner Schattierungen sehr gut, was sich immer wieder in zusammenfassenden Einschätzungen niederschlägt: „Die Entwicklung des gedachten Kontinuums von Hard Rock über Classic Metal zu Extreme Metal, das sowohl parallel existiert als auch eine historische Entwicklungsrichtung aufzeigt, ist damit historisch als Abfolge von Neubearbeitungen der zentralen Ästhetik der Aggression interpretierbar. Die virtuose Kontrolle wird von der solistischen Äußerung auf das Ensemblespiel übertragen, der Grad der Verzerrung der Klangfarbe gesteigert, die Impulsdichte wird erst generell erhöht und anschließend wieder verstärkt mit Elementen geringer Dichte – Breakdowns, ‚Mosh Parts‘ – kontrastiert. [...] Auf eine Steigerung der Eindeutigkeit folgt häufig ein verstärktes Interesse an Uneindeutigkeit.“ (S. 309)

Zugespitzt stellt sich die Frage, ob sich die Kreativität von Metalmusikern eher in Notenniederschriften (schriftlichem Gedächtnis) oder spontaner Komposition (einer Art auditiv-mentalem Gedächtnis) ausdrückt. Eingestandenermaßen trifft man in der Metalszene auf einen zunehmenden Grad an Intellektualisierung und Selbstthematisierung: Bands erklären, wie sie zu ihren Ideen kommen und schmücken diese häufig noch aus. Der deutsche „Metal Hammer“ veröffentlicht seit Publikationsbeginn auf seinen Seiten Berichte zu neuen Instrumenten und Erfahrungsberichte diverser Musiker an Gitarre, Bass, Schlagzeug, Keyboards und so weiter. Dies ist jedoch in der deutschsprachigen Szenefachpresse ein Sonderfall. Auf Musikkomposition und -technik spezialisierte Zeitschriften können hierzu nicht gerechnet werden, da sie einen anderen Fokus auf die Musik legen. Metal-Zeitschriften interessiert vor allem der Musiker im Geflecht aus Kultur und sozialem Umfeld. Fragen zu Konzept und Spontaneität, Szene und Individualität, Professionalität und Hobby, Kunst und Kommerz etc. werden gestellt, wobei das Medium als Sprachrohr einer lebendigen Szene häufig eine politische Rolle einnimmt.

Die „Schwermetallanalysen“ gehen einem gesonderten Interesse nach: der Frage nach den Einflüssen des Heavy Metals und der Artikulationsformen seiner Sprache. Entgegen des landläufigen Vorurteils, Metal sei Krach, führt Elfleins Buch sehr deutlich vor Augen, dass dem auf keinen Fall so ist. Das Ensemblespiel und die virtuose Ausübung der einzelnen Instrumente an verschiedenen Stellen eines Stückes beweisen, dass der Heavy Metal alles andere als einfaches Beiwerk einer gröhlenden Meute darstellt. Auf der anderen Seite wirken viele der musikwissenschaftlichen Erläuterungen wie eine Umformulierung von Zusammenhängen, die bereits in der Fachpresse und unter Fans bekannt sind, wie in etwa, dass Guns n‘ Roses einen stärkeren Blues-Einfluss aufweisen als zum Beispiel Iron Maiden oder sogar Slayer. Elflein holt ein Desiderat der Musikologie nach, doch hat sicher Schwierigkeiten, im kulturwissenschaftlich interessierten Kreis mit Ausführungen zu Puls, Metrum und Rhythmus des Heavy Metals Leser zu finden.

Die Musiker speisen ihre neuen Kompositionen hierbei aus einem Traditionsstrom. Im Metal-Journalismus wird dies bereits seit den frühen Achtzigern wahr- und ernst genommen. Journalisten vom Fach (Special-Interest-Presse) werden also in Elfleins Buch nicht überwältigend neue Erkenntnisse vorfinden.

Gerade die akademische Beschäftigung mit Heavy Metal und seinen Sub-Genres erfährt eine äußerst skeptische Beurteilung durch den harten Kern. Die Notenbeispiele im Innenteil werden Fans sicher abschrecken. Auch wird manchen die Bewusstheit, die Elflein hinter den Kompositionen aufdeckt, sauer aufstoßen. Im Sinne einer kritischen Analyse genretypischer Regeln kann man Dietmar Elflein nur ermuntern, mit seiner Forschung in dieser Weise fortzufahren. Er selbst fordert eine interdisziplinäre Verknüpfung: „Die geisteswissenschaftliche und journalistische Aufmerksamkeit, die gerade der Bereich des Extreme Metal aktuell genießt, könnte so musikanalytisch begleitet und befruchtet werden und bietet eine Möglichkeit der Verbindung von musikalischer Stilanalyse und musikalischer Bedeutung.“ (S. 312) Nur ist zu befürchten, dass dann der musikanalytische Teil unter dem geschwätzigen Partner zu leiden haben wird. Dies liegt in der Eigenart der Narration, die sich lieber auf spektakuläre Details stürzt, als sich durch die Formenlehre der Musik zu kämpfen. Elfleins Buch bietet erste Gelegenheit für diese Art von Schlachtengetümmel.

 

Dominik Irtenkauf

 

 

Dietmar Elflein: Schwermetallanalysen. Die musikalische Sprache des Heavy Metal, Bielefeld 2010: transcript, ISBN 978-3-8376-1576-0 [= texte zur populären musik; Bd. 6].

 

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