5. Dezember 2010

Wer war Maria Iribarne?

 

Der literarischen Hochform des Existenzialismus kann man wunderbar in dem großartigen Roman „Der Tunnel“ des Argentiniers Ernesto Sabato nachspüren.

 

„Es wird genügen, wenn ich erwähne, dass ich Juan Pablo Castel bin, der Maler, der María Iribarne umgebracht hat.“ Mit diesem, in seiner Tragweite erschütternden Satz beginnt Juan Pablo Castel die Geschichte seines Verbrechens, die er auf den darauf folgenden 150 Seiten nüchtern erzählt. So bringt sich der Ich-Erzähler von Anfang an in eine ungünstige Position im Personengefüge seiner Erzählung und zugleich die Welt in eine scheinbare Ordnung von Gut und Böse. Doch nach diesem Satz bleibt nichts mehr, wie es mal war. Die vermeintliche Ordnung gerät Wort für Wort und Seite für Seite immer mehr aus den Fugen, bis sie vor dem Auge des Lesers in sich zusammenbricht.

Ernesto Sabatos Roman „Der Tunnel“ ist der existenzialistische Roman Lateinamerikas, dessen Wiederentdeckung ein Segen für die Literatur ist. Denn sein Autor ist einer jener in Vergessenheit geratenen Argentinier, die mit ihren intensiven Erzählungen den diesjährigen Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse zu einem der erfolgreichsten überhaupt haben werden lassen.

Sabato erzählt in seinem Roman die Leidensgeschichte des Malers Juan Pablo Castel, der sich ebenso unsterblich wie unglücklich in die junge María Irabarne (deren Vorname nicht versehentlich auf die Marienfigur abspielt) verliebt, die ihrerseits mit einem blinden Mann verheiratet ist. Auf einem Kunstsalon versinkt ihr Blick für einen Moment zu lange in einem Bild des Malers, der in diesem vertieften Blick das Zeichen inniglicher Vertrautheit zu erkennen meint. Als er ihr nach Wochen zufällig wieder begegnet, ist dies für Castel der ultimative Beweis einer schicksalhaften Verbindung, der er nachgehen muss. Er ruft die junge Frau an, trifft sich mit ihr, sie verbringen Zeit miteinander, lieben sich. Dies ist objektiv schon alles, doch Castel erzählt dies im Rückblick mit der Zweifelsfreiheit des überzeugt Verliebten, dessen böses Erwachen noch folgen muss. „Die körperliche Vereinigung kam mir daher wie eine Garantie für wirkliche Liebe vor.“

Immer wieder zieht sich María Iribarne zurück, meidet den Kontakt, verschwindet aus seiner Welt. Er telefoniert ihr hinterher, fährt ihr nach und klingelt eines Tages an ihrer Haustür. Ihm öffnet ein blinder Mann, der sich als Marías Ehemann vorstellt. Dieser ist nicht nur sein Konkurrent und Widerpart. In ihrer Unfähigkeit zu Sehen – der eine aus organischen und der andere aus emotionalen Gründen – sind sie eben auch einander Spiegelbild. Ausgerechnet in dem Moment, in dem sich beide in ihrer Blindheit begegnen, lüftet sich für Castel das erste Mal der Schleier der Verliebtheit vor seinen Augen. Denn wenn María ihren Mann mit ihm betrügen kann, dann ist sie vielleicht auch in der Lage, ihn zu hintergehen. Ein guter Bekannter namens Hunter, auf dessen Landgut sie immer wieder flieht, bietet genügend Anlass für Spekulation. Im Rückblick gesteht Castel: „Es waren die mir Unbekannten, die Schatten, die sie nie erwähnte und deren geheime und dunkle Existenz ich dennoch in ihrem Leben ahnte.“

Zu diesem Zeitpunkt hat Castel allerdings bereits längst den Eingang des Tunnels hinter sich gelassen, der dem Roman seinen Titel gibt. Es ist dieser nebulös-dunkle Pfad, dessen Ränder verschwimmen und an dessen Ende kein Licht ist. Bewegt man sich auf ihm, engt sich die Wahrnehmung ein. Der Blick fokussiert ein Nichts am Ende einer langen und geraden Linie. In diesem Tunnel lähmt Müdigkeit den sonst so wachen Geist und die Realität wird von der Imagination zur Seite geschoben. Die Wahl wird vom inneren Zwang abgelöst und eine verheerende Tat begangen, um der eigenen Existenz noch gewahr zu werden. Dieser Prozess vollzieht sich bei Juan Pablo Castel, der immer tiefer in den Tunnel der Verschwörungstheorie hineingezogen wird und in Iribarne irgendwann nur noch die Frau erkennt, die ihm keine andere Wahl ließ, als sie zu töten. Castel wickelt den Leser in diesen Wahn ein und macht ihn vom Zuhörer zum Mitwisser – bis, ja bis sich schließlich sogar der Leser fragt, ob diese bildschöne und makellose María Iribarne eigentlich tatsächlich so ohne Fehler war.

Sabatos 1948 erschienener Roman „El túnel“ erinnert an Simone de Beauvoirs „L’invité“ von 1943 (dt. „Sie kam und blieb“). „Der Tunnel“ besitzt in alternierenden Paar-Triaden ebenfalls die verhängnisvolle Konstellation einer ménage-à-trois, wie sie in Beauvoirs Roman existiert. Beide Romane glänzen in ihrer stets nach vorne drängenden, existenzialistischen Erzählweise. Die Täterin in Simone de Beauvoirs Roman wird am Ende vom Erzähler freigesprochen: „Niemand wird sie verurteilen, niemand wird sie freisprechen können. Ihre Tat gehört nur ihr allein“, denn – so geht der Satz im Kopf des Lesers weiter – irgendwie steht sie über den Dingen. Dieses Über-den-Dingen-Stehen trifft auch auf Castel zu, seine Erzählung ist der Beleg.

Sabatos berühmtester Roman ist eine Erzählung der Einbildungen und Trugbilder, der Halluzinationen und des Wahnhaften, der Andeutungen und Möglichkeiten, ohne dass der Leser diese wirklich entlarven könnte. Castels immer größer werdende Empörung ist ebenso berechtigt wie an den Haaren herbeigezogen. Sein Verhalten ist in gleichem Maße angemessen wie anmaßend. Seine Liebe ist ebenso hasserfüllt und giftig, wie sein Hass voller Wehmut und Sehnsucht ist. So ist dieser Roman einer der ganz großen Gefühle, für die jeder Notausgang zu klein ist. Deshalb hat dieser Tunnel auch keinen.

 

Thomas Hummitzsch

 

Ernesto Sabato: Der Tunnel. Aus dem argentinischen Spanisch und neu durchgesehen von Helga Castellanos. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2010. 192 Seiten. 9,90 Euro. ISBN: 3803126398.

 

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