25. November 2003

Moral ist, wenn man moralisch ist

Das liest sich leicht, sehr schnell und schmerzlos, manchmal muss man seufzen über die ganze herzwarme Angelegenheit und ein wenig die Stirn runzeln über doch zu arg kitschig geratene Szenen.

 

Henry, ein freundlicher junger Mann, beginnt im Fundbüro der DB in irgendeiner größeren Stadt Norddeutschlands, zum Beispiel Hamburg, zu arbeiten. Seine Kollegen sind freundlich und ein bisschen berufserfahren und lebenserfahren. Seine Schwester Barbara ist freundlich und ein wenig ungehalten über ihren ambitionslosen Bruder. Doktor Lagutin wird beider Freund und ist freundlich und verwundert. Paula ist freundlich und beherrscht. Die Verlierer, die sich im Fundbüro melden, sind manchmal verzweifelt, belustigt oder kriminell, werden aber in jedem Fall freundlich abgefertigt durch die Mitarbeiter des Fundbüros. Rassistische Übergriffe werden freundlich geregelt, auch Liebe wird freundlich angeboten und freundlich geregelt.

 

Man kann das Buch seinen Eltern schenken oder seinen Großeltern. Es sind so beifällige Bemerkungen zum Leben. So wie man seine Eltern liebt, so lässt sich auch „Fundbüro“ von Siegfried Lenz lesen. Das ist nicht unangenehm, man ist sich bloß ganz sicher, niemals auf einem solchen Bahnhof gestanden zu haben, wie der Autor ihn beschreibt.

 

Eine Schaffnerin ähnelt Claudia Schiffer. Inter Regio, ICE und DM sind wohl Zeitzeiger, sie wirken aber vereinzelt grotesk in diesem als Schelmenstück getarnten Gutmenschenerinnerungskontor. Verlobungsringe kommen abhanden, ein Dompfaff wird mit Roggenkeksen gefüttert, Ein Baschkire tritt Flöte spielend aus dem Zelt und empfiehlt Tee mit Butter, Studenten führen für ihre Professoren Sketche auf, und Steppenvogelfettsalbe kommt gegen Versehrungen fast aller Art zur Anwendung. Das sind alles keine brauchbaren Zeitgenossen, aber darum geht es auch nicht, mehr um Widerspruchsfreiheit in der Annahme der Gemüthaftigkeit in allem und jedem. Und das gilt auch für die Bösen. „Lass alles laufen“, so äußert sich Henry treuherzig zum Leben, und so laufen die Lebensgeschichten ins Bahnhofsfundbüro oder werden dort abgeholt und H. der vierundzwanzigjährige Held des Romans ist Verwalter dieses krisenfesten Arsenals von Anekdoten und Kuriositäten.

 

Nora Sdun

 

Siegfried Lenz, Fundbüro, Roman, Hoffman und Campe, 336 Seiten