Erlangen-Nachlese I: Marcinelle Noir
Die deutschsprachige Biennale der internationalen Comickunst in der nordfränkischen Universitätsstadt liegt zwar schon einige Wochen hinter uns, doch die Entdeckungen der Messe der bunten Bilder eignen sich wunderbar als Weihnachtsgeschenke. Es muss ja nicht jedes Mal jemand anders mit den Gaben bereichert werden; warum nicht mal an sich selbst denken?
Wie bei jeder Auflage platzte das Programm aus allen Nähten und bot mehr, als die Sinne eines einzelnen Menschen verkraften können, denn neben den ständig überlaufenen Messeständen lockten Ausstellungen im Dutzend und ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Attraktionen. Neben dem Sammelalbum mit den Panini-Stickern wurden die internationalen Stars neben Pionierinnen und Pioniere des Webcomics und des Selbstverlags interviewt; die Gesellschaft für Comicforschung bot eine Reihe über Politik und Comics, die Nachbereitung einer Tagung an der Akademie in Bad Boll; in Panels wurde beispielsweise ebenso über das 60-jährige Jubiläum der Peanuts diskutiert wie über den aktuellen Comicmarkt, über den Rassismus in Tim im Kongo oder über Religion im Comic. Zu den Höhepunkten gehörten die Verleihungen der beiden bedeutendsten Comicpreise, nämlich dem Max-und-Moritz-Preis mit seiner Gala und dem ICOM Independent Preis des Interessenverbandes Comic e.V.
Zu den kommenden Stars des Salons gehört zweifellos der Saarländer Erik mit seinem gedruckten Debüt, das in sechs Monaten von einer Idee zu einem Album reifte, das es handwerklich und erzählerisch mit der Konkurrenz aus Belgien und Frankreich aufnehmen kann. Durchschnittsware unserer Nachbarländer stellt es mühelos in den Schatten. Ursprünglich waren die Abenteuer des Privatdetektivs Deschamps aus Paris, kurz Dédé, für den wichtigsten europäischen Markt gedacht, doch die Herren Verleger wollten nicht so wie der Schöpfer dieses exzellenten Gesellenstücks. Doch das liegt am Überangebot heimischer Comicschaffender, die Eindringlinge in den umkämpften Markt aus dem Rennen drängen, solange sie in ihren Heimatländern keine Publikumsrenner sind oder mit Auszeichnungen überschüttet werden. Für den studierten Grafiker, der in der Werbung sowohl visuell als auch als Texter seine Brötchen verdient, war es schlicht die Premiere im Buchhandel, und das war bei unseren Nachbarn zu wenig. Schade! Die wissen einfach nicht, was sie versäumen!
Zugegeben, auf dem Markt ist Erik ein Anfänger, weil er keine Erfahrungen damit vorweisen kann; allerdings ist er kein blutiger Absolvent einer Hochschule, der sich einbildet, er müsse nun unbedingt von Presse und Publikum entdeckt werden. Seit 2009 hat er sich mit dem ersten Band seiner Fantasy-Trilogie deae ex machina online seine feste, ständig wachsende Fangemeinde geschaffen. Das Feedback auf die ersten 160 Seiten der Ränke der drei Schicksalsgöttinnen Urd, Verdandi und Skuld spornte ihn an, jeden Monat ein Kapitel fertigzustellen. Während Eriks Serie mittlerweile in Martin Jurgeits monatlichem Magazin COMIX auf Papier erscheint, gewährte er in seinem Blog und Threads in den bekannten Comicforen ein Feedback für Lob und Kritik, die er sich zu Herzen nahm. Sein Strich ist unverwechselbar, wozu auch sein ausgefeiltes Farbkonzept beiträgt, das einem strengen Register aus hellen und gedeckten Tönen besteht. Weil jedes Detail sorgfältig gewählt wurde, liest sich Dédé so leicht wie Klassiker aus Marcinelle und verleitet durch seine eigenwillige Komposition zum genauen Betrachten. Nachdem es in Form toten Holzes vorliegt, ärgert sich Erik bestimmt über jeden Patzer, den er sich inzwischen nicht leistet; ein ungeübtes Auge dürfte Schwierigkeiten haben, ihm überhaupt Fehler nachzuweisen.
Erik schätzt die frankobelgischen Klassiker, deswegen imitiert er sie nicht, sondern entwickelt sie weiter und modernisiert sie. Die getuschte und kolorierte Comicarchitektur seiner Seiten mit ihren schwarzen, rechtwinkligen Panelgrenzen mag an Andreas erinnern, wer ihm einmal beim Skizzieren über die Schulter schauen durfte, erkennt den runden Strich des Meisters Will Eisner. Erik nimmt die besten internationalen Einflüsse auf und veredelt sie zu etwas Neuem aus einem Guss. Ästhetisch geht er dabei ähnlich wie Émile Bravo mit seiner gelobten Historisierung von Spirou oder Yann und Schwartz mit ihrer Variation des reisenden Pagen im besetzten Belgien des Zweiten Weltkriegs.
Dédé scheint das oberflächliche Flair einer nostalgischen Serie für Kinder und Heranwachsende zu besitzen, doch der Schein trügt. Mit seinem trockenen, schwarzen Humor, der düsteren Stimmung der Schwarzen Serie Hollywoods mit Humphrey Bogart, Edward G. Robinson, George Raft, Mickey Rooney und Alan Ladd sowie seinem galligen Kommentar zur aktuellen Demografiedebatte ist die Initialzündung der vielversprechenden Serie vieles, bloß kein Kinderkram. Und wer dann immer noch Ansprüche stellt, kann das Album nach Anspielungen und Zitaten absuchen, die in bester postmoderner Tradition stehen, ohne sich in Angeberei zu verlieren.
Der unterbeschäftigte Detektiv Deschamps vertreibt sich die Zeit Schach spielend im Bistrot La Lorraine, als ihm ein Anruf auf seinem Handy überzeugende Einkünfte verspricht. Er folgt der anonymen, weiblichen Stimme, die ihn mit einer Schnitzeljagd durch leicht verwahrloste Villen im Umland der Metropole lockt, wobei er jedes Mal eine verstorbene alte Dame antrifft. Der Wagen eines privaten Pflegedienstes bringt ihn auf die Spur eines Verbrechens, das er klären muss, will er nicht als Sündenbock seines Gegners enden.
Der erste Band der Serie gehört seinem Protagonisten Dédé, den wir in zahllosen Schattierungen seines Charakters kennenlernen, bis er uns so vertraut ist wie Asterix oder Lucky Luke. Eriks grandioses Erzähltalent beweist sich in der eindrucksvollen Skizzierung der wichtigsten Nebenfiguren. Sein gespanntes Verhältnis zu seinem Schachgegner und Vermieter Besnard erinnert die komödiantische Feinmechanik des Kultgespannes Boerne und Thiel aus den Münsteraner Tatort-Folgen. Das Kabinettstückchen liefert er mit dem neckischen Zwist zwischen Dédé und seiner verführerischen Freundin Yvette, die in La Lorraine kellnert; was er dabei mit dem Zeichenstift auf weniger als anderthalb Seiten zustande bringt, hätte ihm ein dickes Lob von Will Eisner einbringen müssen. Diese Szene ist unvergesslich.
Der Grundstein einer Karriere auf internationalem Niveau steht fest. Er spielt jetzt schon in derselben Liga wie Marian Churchland, die als Gastzeichnerin der Serie Elephantmen bei Image bekannt wurde und in ihrem Debüt Beast das alte Märchen von der Schönen und der Bestie als zeitlose Künstlerinnenparabel neu interpretiert hat. Sowohl Churchland als auch Erik nutzen Sepiatöne, die an der Grenze zum Schwarzweiß stehen, um ihrem Publikum das Sehen neu beizubringen.
Früher oder später werden auch die Franzosen und Belgier begreifen, dass Erik selbst bei ihnen sein Publikum finden wird.
Britta Madeleine Woitschig (11/10)
Erik (Serienidee, Szenario, Zeichnung und Koloration): Dédé – Eriks Detektiv Deschamps Band 1: Sind Sie tot, Madame? , Nordhastedt: Epsilon-Verlag Mark O. Fischer 2010, 48 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-86693-074-2
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