15. November 2010

Gebratener Hund nach Hochzeitsart

 

Warum wir (welche) Tiere essen, ist eine durchaus interessante Frage. Der amerikanische Autor Jonathan Safran Foer hat sie aufgegriffen, um ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die industrielle Massentierhaltung zu verfassen, das man auch als Appell für den Vegetarismus lesen kann.

 

Irgendwann ereilt jeden Leser von Jonathan Safran Foers „Tiere Essen“ die Frage nach dem eigenen Fleischkonsum. Genau darum geht es dem Amerikaner, der vor dem internationalen Sachbuchtitel dieses Herbstes bereits mit seinen Romanen „Alles ist erleuchtet“ und „Extremlaut und unglaublich nah“ für Furore im Literaturzirkus sorgte. Nun dieser Sachbuchtitel, der hierzulande einschlägt, wie ein ungebremster Komet. Foer treffe mit „Tiere Essen“ den Zeitgeist des gebildeten Großstadtbürgers, schrieben die Feuilletons landauf landab. Einige Autoren sahen sich gar bemüßigt, sein Buch mit einer Hymne auf den Fleischverzehr zu erwidern, dessen kulinarischen Genuss der Amerikaner völlig ignoriere, so sehr sahen sie von Foer ihren persönlichen Genuss am Fleisch an den Pranger gestellt. Diese Analysen sind zwar allesamt irgendwie übertrieben, aber deshalb sind sie nicht unbedingt falsch. Denn Foers Titel ist nicht mehr und nicht weniger als ein leidenschaftlicher Aufruf, zur Besinnung zu kommen. Zur Besinnung angesichts des massenhaften Fleischverzehrs, der zur Charaktereigenschaft und zum perversen Aushängeschild unserer Wohlstandsgesellschaften geworden ist.

Seine eigene Vaterschaft hat Foer veranlasst, sich recherchierend in die Welt der Fleischherstellung zu begeben. Als werdender Vater fragte er sich, wie er eigentlich sein Kind ernähren wolle und stieß dabei nahezu zwangsläufig auf das Thema Fleisch. Um sich selbst ein realistisches Bild machen zu können, schrieb er Amerikas größte Fleischproduzenten an und bat in freundlichem Ton um Einblicke in einen Tierhaltungsbetrieb und eine Schlachterei. Als eine Antwort ausblieb, passierte das, was immer geschieht, wenn Wissensbegierige ein leeres Buch aufschlagen. Sie suchen Stoff, mit dem sie dieses selbst füllen können. Foer machte sich selbst auf die Suche nach Antworten, bricht nachts in Hühnerfarmen ein, besucht Schlachtbetriebe und Veterinärämter, spricht mit zahleichen Akteuren in der Fleischproduktionskette, sammelt unzählige Informationen zu den großen Fleischkonzernen und kämpft sich durch tausende Seiten voller Statistiken und Studien. Das Ergebnis seiner Recherchen liegt nun mit „Tiere essen“ vor.

Das Buch liefert dabei nicht nur eine umfassende Sammlung von Fakten- und Daten zur amerikanischen Fleischproduktion und -vertilgung, sondern liefert auf einem hohen sprachlichen Niveau zugleich auch den Anstoß für eine ethische Debatte rund um die Frage „Warum essen wir Tiere und würden wir sie auch essen, wenn wir wüssten, wie sie leben und sterben?“ Diese Frage ist elementar, will man über den Fleischkonsum heute sprechen. Denn wer weiß schon noch, was er da eigentlich zu kaufen beabsichtigt, wenn er die Folie eingeschweißten Fleischhaufen in unseren Supermärkten Richtung Kasse trägt? Die Allerwenigsten. Das Fleisch, das wir kaufen und essen, ist zu einer subjektlosen Masse geworden, ein totes Produkt ohne Bezug zu dem Tier, von dem es kommt. Wir kaufen Salami, Schinken, Schnitzel und Roulade, deren Attribute Rind, Schwein oder Geflügel längst nur noch Bezugsgrößen zum Geschmack sind, jedoch nicht zum Tier! „Das Problem mit dem Fleisch ist ein abstraktes geworden: Es gibt kein einzelnes Tier mehr, keinen einzelnen freudigen oder gequälten Blick, keinen wedelnden Schwanz und keinen Schrei.“

Diese Abstraktion führt dazu, dass wir Tiere essen, ohne uns darüber im Klaren zu sein. Metzgereien, in denen die tierischen Lieferanten noch ansatzweise identifizierbar sind, gibt es längst nicht mehr. Der Grund ist so einfach wie einleuchtend: Würden wir die geschlachteten Tiere erkennen, würden wir zum einen weniger Fleisch essen und dies zum anderen mit einem größeren Bewusstsein tun. Dies würde immense Einnahmeverluste einer riesigen Industrie verursachen, die von der Geflügelfarm über die Schlachterei und den Discounter bis hin zur 99-Cent-Bratwurstbude reicht.

Die Geschäfte solcher Unternehmen wiegen offensichtlich mehr als die Würde, die der Umgang mit Fleisch keineswegs ausschließt. Als der Autor dieser Kritik während eines Israelbesuchs gemeinsam mit seinem Gastgeber dessen arabischen Metzger besuchte, trennte dieser vor unseren Augen mit großer Sorgfalt die frischen Filets aus der vor ihm liegenden Rinderhälfte heraus. Dies blieb dem Autor nicht als einfaches Einkaufserlebnis in Erinnerung, sondern hat sich als Moment der Achtung und des Respekts eines Fleischers gegenüber dem vor ihm liegenden Tier und eines Käufers angesichts dieser Sorgfalt dieses für ihn gegebenen Lebens eingebrannt. Diese Würde fehlt in den Wohlstandsgesellschaften, da die Begegnung mit dem Tier, ob lebendig oder tot, strukturell vermieden wird.

Foer macht in seinem Buch damit Schluss. Er konfrontiert seine Leser mit den tierischen Subjektmassen und ihren Lebensbedingungen in den Massenhaltungsbetrieben, die der Wohlstand mit sich bringt. Dies macht er fakten- und einfaltsreich, so dass man die Wirklichkeiten der modernen Mastbetriebe nicht länger ignorieren kann. Etwa wenn er veranschaulicht, dass der Platz eines Huhns in einer Legebatterie einer aufgeklappten Buchseite entspricht. Oder wenn er zeigt, dass fünf eng bedruckte Buchseiten nötig sind, um darauf so viele Buchstaben unterzubringen wie Tiere für die Ernährung eines durchschnittlichen Amerikaners geschlachtet werden müssen.

Foer entlarvt zugleich auch die perverse Logik der Lebensmittelindustrie, in der Kosten und Nutzen nach Rationalitätskriterien zum Leidwesen der Tiere gegeneinander abgewogen werden. Wie z.B. bei der Produktion des ach so gesunden Geflügelfleischs (Mal Hand auf’s Herz: Kennen Sie ein Wellness-Menü ohne „Chicken“ oder „Putenbrustfilet“?). Etwa wenn die männlichen Küken aussortiert und über Elektrorutschen direkt in die Sondermülltonne entsorgt werden, schließlich sind sie des Eierlegens aus natürlichen Gründen unfähig und damit von geringerem Mehrwert. Die Milliarden Tonnen Hühnerfleisch, deren tierische Subjekte wir mithilfe des neudeutschen Euphemismus „Chicken“ aus unserem Bewusstsein verdrängen, liefern die Legehennen, die nach einem Jahr geschlachtet werden, da sich ihre Haltung ein weiteres Jahr lang aufgrund des zurückgehenden Legeertrags nicht rentiert. Hühnerfleisch ist ein Abfallprodukt der inneren Logik der Fleischindustrie – über die geringen Preise muss man sich dann nicht mehr wundern. Die Schlachtung der Tiere mittels elektrisch geladenem Wasserbad, Halsschnittautomat und menschlichen Nachschneidern geht nicht selten schief, so dass nicht wenige Tiere vom Schlachtband bei Bewusstsein durch das anschließende Brühbad gezogen werden. Wer lesen will, wie dieser Prozess weitergeht, schlage das Buch auf Seite 152 auf und lese die kurze Biografie eines Industriehuhns „Leben und Tod eines Vogels“.

Alternative Schlachtmethode als die industrielle gibt es in den USA nicht; und auch in Deutschland gibt es kaum mehr Schlachthöfe, die Bio- oder Kleinbauern eine Alternative zur maschinellen Schlachtstraße mit all ihren Fehlfunktionen bieten. Ihre Steigerung erfahren die maschinellen Grausamkeiten durch die oft unterbezahlten Schlachthofmitarbeiter, die ihren Frust – wissenschaftlich nachgewiesen – an den Schlachttieren auslassen.

Die Wahrheiten, die Foer in seinem Buch zur Tierschlachtung präsentiert, sind grausam und befinden sich oft am Rande des Erträglichen. Doch es sind Realitäten, mit denen sich, wer Fleisch verzehrt, einmal konfrontieren sollte. „Ethisch unbedenkliches Fleisch ist Mangelware, keine Realität“, wie Foer schreibt. Wer heute Fleisch isst, nimmt – ob er will oder nicht – Tiermisshandlungen hin, denn sie sind Teil des gegenwärtigen Systems der Massentierhaltung, gegen das Foer energisch anschreibt.

Der amerikanische Schriftsteller verlässt sich aber mitnichten auf eine Argumentation des Grauens, sondern liefert schlicht und sachlich die Argumente für eine Debatte der Vernunft. Denn die Grausamkeiten, denen die Tiere während der Haltung und Schlachtung ausgesetzt sind (und von denen Foer nicht wenige ausführt), bilden nur eine Seite der industriellen Fleischproduktion. Eine andere bilden die hygienischen Fragen, die die Massenproduktion von Fleisch nach sich zieht. So werden bei der sog. Wasserkühlung die Fleischteile in mit einer Flüssigkeit gefüllte Becken gekippt, in denen sie gekühlt werden und sich mit Wasser vollsaugen. Diese Becken sind wahre Brutstätten für Lebensmittelkeime. Einer Studie eines amerikanischen Verbraucherschutzmagazins zufolge sind 83 % des Hühnerfleischs (inkl. antibiotikafreiem Fleisch und Bioprodukten) zum Zeitpunkt des Kaufs [!] entweder mit Campylobacter oder Salmonellen infiziert, kann man bei Foer lesen. Aber klingt das nicht alles nur nach Panikmache? Das mag schon sein, aber die seltsame Zunahme von kurzfristigen Magen-Darm-Infektionen spricht eine andere Sprache.

Das Umweltargument gehört ebenso zur Industrieware Fleisch: UN-Studien haben längst nachgewiesen, dass landwirtschaftliche Nutztiere mehr zum Klimawandel beitragen als das Transportwesen. Ganze Regenwälder fallen dem Anbau der Grundlagen des industriellen Tierfutters zum Opfer. Darüber hinaus macht Foer deutlich, dass die in der Tierzucht anfallenden Fäkalien eine nicht mehr zu ignorierende Großbelastung für die menschliche Umwelt darstellen. Diese umweltpolitische Argumentation verbindet er auf ebenso gewitzte wie provokante Weise mit den kulturellen Essgewohnheiten des Menschen, die in dem Argument, ökologisch Gesinnte sollten endlich anerkennen, „das Hundefleisch ein realistisches Nahrungsmittel für realistische Umweltschützer ist“, ihren Höhepunkt findet. Denn allein die Entsorgung der jährlich aus Gesundheitsgründen eingeschläferten Hunde und Katzen sei „ein enormes ökologisches und wirtschaftliches Problem.“ Wenn schon Fleisch, warum dann also nicht auch mal „geschmorten Hund nach Hochzeitsart“, wie es in zahlreichen Ländern durchaus möglich wäre? Weil der Hund so traurig aus der Wäsche kucken kann? Das vermögen Kühe auch. Oder etwa weil er in etwa so klug und lernfähig ist wie das gemeine Hausschwein? Das wird es ja wohl auch nicht sein. Warum also nicht den „besten Freund des Menschen“ auf den Grill packen? Weil wir völlig willkürlich auswählen, welche Tiere wir aus welchen Gründen verspeisen oder eben verschonen. Mit solchen schlagenden Argumenten bringt Foer die Frage nach dem Warum des Fleischessens und dessen ethisch-moralischer Grundlage immer wieder intelligent und sprachgewandt auf den Punkt.

Wer aber meint, das gesamte Werk sei im moralischen-süffisanten Anklageton einer Polemik verfasst, sieht sich getäuscht. Angesichts des Erlebten und Gesehenen (Filmische Eindrücke kann der Leser im Netz unter dem Stichwort „Meet your Meat“ finden) muss man Foer Respekt vor dem nüchternen Ton zollen, mit dem er die eingangs gestellte ethische Frage an der Oberfläche seiner Argumentation hält. Sicher ist diese Frage eine, die sich nur in der westlichen Wohlstandsgesellschaft stellt – dies räumt er selbst ein. Aber dort müsste diese Frage endlich offen und ehrlich diskutiert werden. Die Frage, ob sich das Ausmaß des Fleischkonsums angesichts der beschriebenen Bedingungen noch annähernd rechfertigen lässt, stellt sich dann von selbst. Vor dem Besinnen kommt das Sehen und Verstehen der Realitäten.

Um welches Ausmaß es sich bei diesen Realitäten handelt, lässt sich anhand einiger Zahlen schnell veranschaulichen. Um den seit Jahrzehnten steigenden Fleischhunger unserer Wohlstandsgesellschaften zu stillen, führen allein die Fleischfabriken in den USA gegenwärtig zehn Milliarden Landtiere jährlich auf die Schlachtbank. Wem dies zu wenig auf seine kleinbürgerliche Idylle in Deutschland bezogen ist (bei einem selbst ist ja immer alles ganz anders), der nehme folgende Zahlen zur Kenntnis: Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamts allein in Deutschland 56.415.489 Schweine, 3.803.554 Rindtiere, 1.045.718 Schafe, 27.821 Ziegen und 9.413 Pferde geschlachtet. Dazu kommen 584.952.800 geschlüpfte und für die „Gebrauchsschlachtung“ vorgesehene Hühnerküken, 25.409.800 Entenküken, 1.028.200 Gänseküken sowie 44.755.700 Truthühner- bzw. Perlhühnerküken. Alles in allem umfasst der deutsche Fleischberg mehr als 700 Millionen Landtiere, verdichtet mit weiteren Millionen Meerestieren, damit der deutsche Durchschnittsbürger weiterhin seine 83,3 Kilo Fleisch und 16 Kilo Fisch pro Jahr vertilgen kann. Nun kann sich jeder selbst fragen, ob und in welchem Ausmaß er zu diesen Zahlen weiterhin seinen bisherigen Beitrag leisten will.

Diese Entscheidung überlässt Foer seinen Lesern, ohne aber mit seinen persönlichen Konsequenzen hinterm Berg zu halten. Er hat sich im Laufe seiner Recherchen für das Vegetariertum entschieden. Den Grund bringt er selbst auf den Punkt: „Nichts, was wir tun, kann unmittelbar so viel Leid bei Tieren verursachen wie das Fleischessen, und keine unserer täglichen Entscheidungen hat größere Folgen für die Umwelt.“ Sicher wird er einige Leser finden bzw. bereits gefunden haben, die seiner auf knapp 400 Seiten ausreichend fundierten Argumentation gut folgen können. In unseren Gesellschaften sind die Informationen, die er in „Tier essen“ zusammenfasst problemlos verfügbar. Sie nicht wahrnehmen zu wollen, ist unmöglich. Sie auszublenden und damit die menschlichen Sinne abzustellen, schon.

Nach der Lektüre von Jonathan Safran Foers „Tiere Essen“ ist dieses Asublenden aber nicht mehr möglich, denn der Amerikaner liefert uns die Argumente, die uns zur Besinnung kommen lassen, um unser Verhältnis zum Fleisch vielleicht nicht gleich aufzukündigen, aber zumindest um es zu überdenken. Und damit wäre schon eine Menge getan.

 

Thomas Hummitzsch

 

Jonathan Safran Foer: Tiere Essen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, Isabel Bogdan & Ingo Herzke. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2010. 399 Seiten. 19,95 Euro. ISBN: 3462040448.

 

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