9. November 2010

Endlich

 

Die Künstler, die Künstler von heute, haben es gut. Am Anfang der Woche malen sie (wenn sie überhaupt noch malen), dann machen sie eine Installation, am Ende der Woche fotografieren sie (Bilder und Installation oder was ganz anderes) und am Sonntag schreiben sie auch noch Texte für andere Künstler. Der Schriftsteller dagegen hat es immer nur mit Worten zu tun. Ihrer Organisation zu einem wie auch immer gearteten Werk. Sind sie deshalb vielleicht ehrgeiziger, das perfekte Werk zu schreiben? Sie können als monomediale Arbeiter ja nicht ausweichen.

 

Noch während man La carte et le territoire liest, hat man den Eindruck, einen perfekten Roman in der Hand zu haben. Geschrieben mit einer Souveränität, die die Möglichkeit des Ausnahmezustands entfernt hat. Es ist die Idee der Konsequenz, die alles beherrscht: den Stil, den Rhythmus, das Konzept, die Personen. Das sieht scheinbar nach altbackenem linearem Erzählen aus. Die Linie gibt es in der Tat, aber sie ist die Nadel eines sich nicht ablenken lassenden Kompasses. Viel wichtiger als die Linearität ist der Schubcharakter dieses Romans. Dabei ist das energetische Moment genauso wichtig wie das maladive der Unausweichlichkeit. Die Dinge werden bis an ihr Ende getrieben, so weit, bis sie sich beinahe von selbst auflösen. Dann wählt sich die Schubkraft eine neue Beschäftigung.

 

Eine unterschwellige These dieses Romans besagt, dass die entscheidende Kraft von der Kunst ausgeht, nicht von irgendeiner Kunst, sondern von einer Kunst, die, wie auch immer verschlüsselt, komprimiert oder entstellt, die Welt enthält oder zumindest ein Symbol von ihr ist. Ein bildender Künstler steht im Zentrum des Romans, Jed Martin, dessen Weg als mehr oder weniger logische Abfolge von Durchgängen durch das jeweilige Material beschrieben wird. Man muss sich Jed Martin als Konzeptkünstler vorstellen, der eine entsprechende Idee konsequent und deshalb so überzeugend als fotografische Arbeit umsetzt oder als Porträtmalerei oder, ganz am Ende seiner „Karriere“, als Palette von Videogrammen. Die Idee ist jeweils die in Bilder gefasste Wahrheit einer Zeit. Und da wir die Fotos und Bilder und Videogramme (leider) nicht sehen können, muss davon in einem Roman berichtet werden. Und es taucht deshalb ein Schriftsteller in La carte et le territoire auf, weil nur durch sein Wort, das Wort einer Ikone, die Konsequenz der Idee verbürgt werden kann. Der Name dieses Schriftstellers ist Michel Houellebecq.

 

Es ist das erste Mal, dass der Autor als Figur seiner selbst in einem Roman erscheint. Aber auch der Erfolgsschriftsteller Frédéric Beigbeder gehört zur Staffage des Personals, Philippe Sollers wird nur noch einmal erwähnt, nachdem ihm in Les particules élémentaires immerhin zwei wortreiche Auftritte vergönnt waren. Ein bildender Künstler, der sehr erfolgreich wird, den das aber nicht sonderlich interessiert, und ein Schriftsteller bilden die Achse dieses Romans. Nach einer Phase, in der er ausschließlich als Fotograf gearbeitet hat und in der er die maßgeblichen Metiers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzufangen versucht hat (eine Art neuer August Sander), wechselt Martin das Medium und wird Maler. Ausgerechnet an einem Werk, in dem es um Kunst geht, scheitert er. Wie sich Damien Hirst und Jeff Koons den Kunstmarkt teilen. Dieses Bild wird nicht Teil einer Ausstellung sein können, mit der Jed Martin seinen Durchbruch (auch finanziell) als Maler erzielt. Titel der Austellung: La carte et le territoire. Autor des Katalogtexts: Michel Houellebecq. Eine Karte wird also durch eine andere Karte verstärkt. Kein Wunder, dass es an einer Stelle heißt, dass die Karte wichtiger sei als das Territorium.

 

Aber das macht weder aus Michel Houellebecq einen postmodernen Autor (von La carte et le territoire) noch aus Jed Martin einen postmodernen Maler. Gerade ihre sich selbst erteilten Auftragslagen (die Wahrheit und nichts als die Wahrheit) zeugen von einer Einstellung, die nicht vereinbar ist mit spielerischer Beliebigkeit. Houellebecq I und II sind grandios modern, und nur so können sie von ihrer Zeit überrollt werden, genau das aber auch Teil ihrer Wirklichkeit werden lassen. Sowohl Jed Martin als auch Houellebecq II sind überzeugt, dass Dinge zuende gehen können. Und sie glauben, dass es Aufgabe des Schriftstellers und des bildenden Künstlers ist, davon Zeugnis abzulegen. Es ist eine seltsame Hegelei, die hier betrieben wird, denn von Dialektik und dem Zauberwort Aufhebung bleibt nur mehr das zerstörerische Moment übrig. Das Gedächtnis? Wird immer schwächer. Das Aufbau-Projekt Moderne? Ein Rückbau in Richtung durchgehender Verpflanzlichung. Und so wird paradoxerweise auch die Berufung des Künstlers dem Künstler entzogen. Ihre eigentliche Arbeit kommt nicht an. Sie erscheint als Hype, als Marktphänomen, als Preis. Die Wahrheit kann nicht gesagt werden oder sich im Bild zeigen. Oder wenn, machen Tod oder Zerstörung dem Auftrag ein Ende.

 

Dieser Roman ist auch eine Intarsienarbeit, denn in ihn ist eingelegt ein Kriminalroman, von dem man am Anfang nichts ahnt und der am Ende als Genre schon überhaupt keine Rolle mehr spielt. Was in diesem Part passiert, ist ziemlich spektakulär, wenn auch nicht im Sinn des Spektakels von Guy Debord. Jed Martin und Houellebecq II sind Varianten von Grenzgängern, die zeigen (im Auftrag von Houellebecq I), wie weit sie gehen können, immer weiter zu gehen. Bildungsromane kann sich Michel Houellebecq zwar (materiell) erfolgreich, aber immer nur negativ endend vorstellen. Der Künstler kann nur deshalb der Gesellschaft ihr eigenes Bild vorhalten, weil er anders ist als sie. Er ist der zwar ausbeutbare, aber nicht integrierbare Teil.

 

Auch dieser Roman ist ein Buch, das zum Teil in der Zukunft spielt, allerdings anders als in Die Möglichkeit einer Insel in einer sehr nahen Zukunft. Um so schlimmer, weil viel näher an den zeitgenössischen Leser herangerückt die Diagnose des Romans, die nicht sehr neu ist für den Houellebecq-Leser: Der abendländische Mensch steht kurz vor seinem Ende. Aber: Es geht trotzdem weiter. Werdet Künstler. Arbeitet im Verborgenen. Die Welt braucht euch nicht.

 

Beim dritten Anlauf – nach seiner Nominierung für Les particules élémentaires (1998) und La possibilité d’une île (2005) – hat Michel Houellebecq für La carte et le territoire nun den begehrten Prix Goncourt erhalten. Die deutsche Übersetzung des Romans ist für März 2011 vorgesehen.

 

Dieter Wenk (11-10)

 

Michel Houellebecq, La carte et le territoire, Paris 2010 (Flammarion)

 

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