25. November 2003

Eine Zone verringerter Realitätsfestigkeit

 

Ein Familienroman, mit großem Überblick geschildert, mit familiärem Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des 20. Jahrhunderts. Und zum Glück ohne genealogische und literarische Tiefsinnigkeitsattacken. Ein gelindes Erschauern und Fluggefühl, weil man selbst den Überblick verloren hat, wird gemildert durch die familienspezifische „Transusigkeit“ von Stephan Wackwitz.

 

Der Anlass dieses Familienromans ist triftig. Eine No. 1A Pocket Kodak Kamera, beschlagnahmt im Jahr 1939, mit belichtetem Film, gelangt auf verschlungenen Dienstwegen 1993 zu ihrem Besitzer, dem Vater des Autors, zurück.

Was ist auf dem Film? Man kann getrost davon ausgehen, dass, hätte die Kamera ihre Geschichte preisgegeben, der Autor Stephan Wackwitz diese kleinteilige und genaue Recherche der Zeit um die Kamera herum nicht betrieben hätte.

Die Formulierungen, die er statt der Bilder findet, sind nicht bösartig, aber treffend. Wie zur Erinnerung an die vorenthaltenen Bilder tauchen Fotos aus einem Familienalbum am Rande des Textes auf. Sie gewinnen aber nie eine so magische, zur Überschau nötigende Autorität wie die Gespensterbilder der Kodakkamera.

Es ist eine hartnäckige Arbeit an einer Fiktion der Zeit, ein Mäandern zwischen Präfiguration, Wiederkehr und Teleologie, und die sich an der Schnur abspulende Realität wird mehrfach erfolgreich zurückgewiesen.

„Elternhäuser sind Seelenarchitekturen. Wer sein Leben schildert, beschreibt Zimmer und Häuser.“ Und so geht das tatsächlich in dem Roman „Ein unsichtbares Land“. Wie ein Spuk wechselt die Szenerie vom Haus des Großvaters in der Nähe von Auschwitz nach Afrika, wohin die Familie in „national autistischem“ Missionarsgeist auswandert, und zurück in Nachkriegs- und bundesrepublikanische Verwirrtheit mit „kleinem bedeutsamen Schweigen“. Und vom Interieur der Häuser wechselt es sich zwanglos direkt ins Hirnkästchen der Beteiligten.

Wackwitz versteigt sich nie, obwohl er sich mit Schopenhauer und noch lieber Schleyermacher vor Fichte schützt. Das sind geisteswissenschaftliche Volten, die klebrigen Familienkitsch und protestantisch „tränenvolles Erkenntnisverlangen“ verhindern und gleichzeitig erklären, wie man aus nächster Nähe, aber ohne die Nerven zu verlieren, über seine Großväter schreiben kann. Nämlich ruhig hinter der eigenen Bücherwand wandelnd.

 

Nora Sdun

 

Stephan Wackwitz, „Ein unsichtbares Land“, Familienroman, S.Fischer 286 Seiten