19. Oktober 2010

Familienbilder

 

Es scheint nicht ganz unbegründet zu sein, dass vor allem Künstler sich ein wenig frostig geben, wenn Psychoanalytiker sich anheischig machen, ihre Werke ergründen zu wollen. Die Hauptfurcht: billiger Symbolismus, insbesondere in Sachen Pansexualismus. Auf der anderen Seite haben eine Reihe Künstler keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Freud und seine Traumdeutung verehrten. Die Surrealisten – auch wenn einige unter ihnen wiederum Freud ablehnend gegenüberstanden – wären ohne die Psychoanalyse nicht das, was sie geworden sind. Kunstkritiker wie Clement Greenberg schauten verächtlich auf die Surrealisten, weil sie zu sehr auf den Inhalt ihrer Kunst fixiert waren und dabei den medialen Charakter der Kunst vergaßen. Dieser Vorwurf ließe sich, leicht gewendet, auch auf die Psychoanalytiker richten, nämlich dann, wenn es ihnen darum zu tun ist, in einem Bild vor allem das Dahinterliegende oder Unbewusste zu artikulieren: natürlich über Symbole. Was dabei verloren zu gehen droht: was ein Kunstwerk erst zu einem Kunstwerk macht, also Überlegungen, die eher formal-ästhetischer Natur sind. Die Gefahr der psychoanalytischen Kunstinterpretation ist also immer die, dass es im Grunde immer nur um die Psychoanalyse geht und die Kunst zum bloßen Anlass verkümmert.

 

Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser untersucht in seinem reich bebilderten Buch Kunst und Psyche die „Bilder als Spiegel der Seele“. Seine 20 Bildanalysen haben das Ziel, „die Freude und Entdeckerlust an den Kunstwerken zu erweitern“ und „den Besuch von Museen ein wenig spannender zu machen“. Wie, die Besuche von Museen sind nicht spannend? Woran liegt das? Am „normalen“ Blick des Museumsbesuchers, so Moser. Was er mit „normal“ meint, sagt er nicht, aber es scheint an „Vertiefung des Genusses“ zu mangeln. Moser möchte die „tieferen Regungen“ des Betrachters in Wallung versetzen. Wie geht der Analytiker dabei vor? Manche der Analysen lesen sich wie Parallelgeschichten zwischen Bildbeschreibung des Kunstwerks (ausschließlich Gemälde aus der Zeit der „Moderne“) und Berichten von analytischen Sitzungen. Ob das für den Leser so sehr spannend ist, wenn sich Moser bei dem und dem Bild an die und die therapeutische Einheit erinnert fühlt und den Eindruck vermittelt, der Maler habe genau um diese Abgründe gewusst (zumindest implizite) und eben deshalb dieses Bild gemalt? Man glaubt, ein Buch zur Bereicherung der Seelenerfahrungskunde in Händen zu halten, und mag es manchmal nicht fassen, dass die (De-)Figuration des Bildpersonals anscheinend überhaupt keine Rolle bei der Analyse des Bilds gespielt hat.

 

Zum Beispiel Pablo Picassos Famille au bord de la mer aus dem Jahr 1923 (muss man erst noch behaupten, dass die „Familie“ in den meisten der Bildanalysen die Hauptrolle spielt?): Über die Mutter heißt es an einer Stelle: „… der Betrachter bekommt ihre freie Schulter zu sehen, und er folgt mit leicht lüsternen Blicken den beiden Schenkeln, wobei er beim linken sogar die Rundung des Pos erkennen kann.“ Ich muss gestehen, dass meine Lüsternheit sich sehr im Zaum gehalten hat, ich musste eher über Mosers Formulierung lachen, denn diese Mutter (und welche Frau in Picassos Bilderwelt überhaupt?) drückt nicht das Bild der verlockenden Frau aus. In Max Ernsts Der keusche Joseph von 1928 wird der Leser lange über den „anderen“ Joseph belehrt (den Gatten Marias), obwohl dieser anscheinend von keinerlei Belang für die Bildinterpretation Mosers ist. Nichts erfährt der Leser aber über Ernsts „Loplop“. Wäre es nicht spannender gewesen, ein wenig kunstgeschichtliches Material in die psychoanalytische Deutung mit hineinzunehmen? Was Moser hier vermitteln möchte, ist, dass auch der Analytiker gewissen Versuchungen ausgesetzt ist. Denen er natürlich nicht nachgeben darf. Und genießt nicht eher dieser seltsame Vogel „Joseph“?

 

Wie weit Moser sich von der Bildwirklichkeit entfernt, wird gleich bei seiner ersten Untersuchung klar, wenn er unter der Kategorie „Mutter idealisiert ihr Kind“ einen Max Ernst (Ohne Titel (Die Riesenschlange, 1920)) und einen Otto Dix (Mutter und Kind, 1923) parallelisiert und der soziale Unterschied sowie der zwischen Traum und Wirklichkeit keine Rolle spielt. Man muss der Psychoanalyse ja nicht gleich Hausverbot fürs Museum erteilen, aber bisher habe ich mich auch ganz gut ohne sie dort gelangweilt.

 

Dieter Wenk (10-10)

 

Tilman Moser: Kunst und Psyche. Bilder als Spiegel der Seele, Stuttgart 2010 (Belser)

 

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