11. Oktober 2010

 

Der Maler und seine Frau in einem der größeren Säle im ersten Stock des Martin-Gropius-Baus. Wie immer bei Ausstellungen macht Pierre Soulages, mittlerweile 90 Jahre alt, Hängung und Ausleuchtung zur Chefsache. Pierre und Colette sind komplett schwarz gekleidet. Die wuchtigen Arbeiten des Künstlers: ebenfalls schwarz. Als ob es bei einer Farbe, die alle anderen zudeckt (und angeblich alle enthält), noch um Nuancierungen gehen könnte, bezeichnet Soulages seine ab 1979 entstandenen Werke mit einem Neologismus: outrenoir. Also etwa: jenseits des Schwarz. Wie kann es sein, dass ein Maler, der fast ausschließlich ein Pigment verwendet (schwarz), seine Tätigkeit „Arbeit am Licht“ nennt? Denn die doppelte Natur des outrenoir meint genau die Gleichzeitigkeit von Schwarz und Licht.

 

Jeder, der sich dieser Tage die Ausstellung „Pierre Soulages“ im Gropius-Bau ansieht, kann sich ein Bild davon machen, dass es zu kurz griffe, den Franzosen als Monochromisten zu kategorisieren. Nachdem die Ausstellung bereits im Pariser Centre Georges Pompidou als große Retrospektive mit über hundert Gemälden gezeigt wurde, ist sie nun in etwas kleinerem Umfang bis Mitte Januar 2011 in Berlin zu sehen. Dabei ist es schon über 60 Jahre her, dass der in Rodez geborene Künstler zum ersten Mal in Deutschland ausgestellt wurde. 1948 war Soulages der jüngste Teilnehmer einer „Französische Abstrakte Malerei“ genannten Wanderausstellung, die, in Stuttgart beginnend, in zehn deutschen Städten (darunter nicht Berlin) gezeigt wurde. Dem schnell in Europa und den USA bekannt gewordenen Maler wurde bereits 1960 in der Kästner Gesellschaft in Hannover eine erste Retrospektive ausgerichtet.

 

Die jetzige Schau führt vor, wie schnell Soulages zum großen, monumentalen Format fand, das er später zusätzlich erweiterte zu seinen Polyptychen. Die Anfänge sind überschaubar im Format. Stark im Kontrast, erinnern manche an chinesische Kalligramme. Aber es handelt sich beim Franzosen um „Zeichen ohne Bedeutung“. Und das Schwarz? Warum vor allem schwarz? „Ich liebe das Schwarz, seine Autorität, seine Tiefe, seine Klarheit, seine Radikalität“. Und dabei sollte gar keine Symbolik am Werk sein? Die Kuratoren, exzellente Kenner des Werks, winken ab. Vielleicht wollen sie ein Werk vor falscher Vereinnehmung schützen? In einer diffizilen Phase der Beziehung der Malerei Frankreichs und der USA, in den 50er Jahren, hatte ein amerikanischer Kritiker die vor allem angeblich religiösen Bezüge in der Malerei Soulages’ hervorgehoben.

 

In einem sehr lesenswerten Aufsatz im Katalog zur Ausstellung skizziert Serge Guilbaut ein wenig die Lage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem unaufhaltsamen Aufstieg der amerikanischen abstrakten Expressionisten im Verhältnis zum „Verfall“ der damaligen französischen Malerei. Wer hier in die Falle abendländischer Symbolik tappte oder entsprechend etikettiert wurde, riskierte wenn nicht Berufsverbot so doch potenziell Minderwertigkeit. Männliche amerikanische Malerei wurde gegen effeminierte französische ausgespielt. Der Kritiker Clement Greenberg spielte dabei eine nicht ganz zu vernachlässigende Rolle. Pierre Soulages hat es offensichtlich nicht das Genick gebrochen. Als abstrakter Maler teilt er natürlich mit seinen Kollegen die Philosophie, dass es in ihr, der Abstraktion, nicht länger um „Repräsentation“ gehe, sondern in erster Linie um „Präsentation“. Ein paar Jahrzehnte früher hat das der Hannoveraner Dadaist Kurt Schwitters folgendermaßen formuliert: In der modernen Kunst gehe es nicht länger um „Darstellung“, sondern um „Da-Stellung“. Das ist präzise und gleichzeitig ganz witzig gesagt. Mit Witz hat Soulages nun allerdings nicht viel am Hut.

 

Vermutlich gibt es nur einen einzigen abstrakten Maler, der überhaupt mit Humor in Verbindung gebracht werden kann und der der Geschichte der Kunst ganz abhanden gekommen ist, wohl weil es keine Werke mehr von ihm gibt: Alphonse Allais. Wenn er schwarz malte, dann stand im Titel etwa zu lesen: Schwarze in einer Kohlegrube bei Nacht arbeitend. Das war vor mehr als hundert Jahren, noch im 19. Jahrhundert. Yves Kleins Monochromie später war pure Symbolik. Soulages kappt diesen Horizont und bleibt ganz diesseitig. Man muss sich seine Arbeiten, die kaum Bilder sind, erlaufen. Denn sie geben ihren Wert nicht von einer Stelle aus zu erkennen. Die Produktion der Lichteffekte durch Schwarz muss man sich ergehen. Und was immer man zu dem Konzept des Monopigments sagen mag, es ergeben sich bisweilen hinreißende Entschwärzungen. Dann zeigt sich wirklich etwas, was man zuvor nicht gesehen hat, und das mag man einen magischen Moment nennen. Soulages dreht Alberti einfach um: Man schaut nicht durch ein „Fenster“ auf das Dargestellte (des Bildes), sondern etwas ergibt sich vor dem Objekt durch das Zusammentreffen von Schwarz und Licht. Hierfür scheint uns ein Wort nicht ganz abseitig zu sein. Transzendentale Diesseitigkeit.

 

Das Schöne also bei Soulages, zumindest einigen seiner Werke: Es passiert wirklich etwas. Man kann sich ganz auf das Schauen konzentrieren und die ganze Kunstgeschichte vergessen. Schwarz ist manchmal mehr.

 

Dieter Wenk (10-10)

 

Pierre Soulages, Martin-Gropius-Bau, Berlin. 2. Oktober 2010-17. Januar 2011

Pierre Soulages, hg. von Pierre Encrevé und Alfred Pacquement, München 2010 (Hirmer)