Spektakuläre Evolutionsbilder
„Vierzehn Milliarden Jahre zwischen zwei Buchdeckeln.“ Liest man diese Ankündigung des Comic-Verlags Carlsen, dann ist man kurz versucht, die Worte Größenwahn und Gigantomanie in den Mund zu nehmen. Hat man aber die 350 Seiten, gezeichnet von Jens Harder, erst einmal in der Hand, stellt man fest, dass man im ersten Urteil weit daneben lag. Denn Harders erster Band seiner geplanten „Woher kommen und wohin gehen wir?“-Welttrilogie „ALPHA … directions“ ist mit Bezeichnungen wie Geniestreich oder Wunderwerk nicht annähernd ausreichend oder gerecht beschrieben. Möglicherweise ist der Vergleich von Harders kongenialem Comicband mit einem gigantischen Feuerwerk am treffendsten. Egal wohin man schaut, man ist überwältigt von den haptischen Eindrücken, die dieses detailverliebte und akkurate Bilderrauschen hinterlässt. Ein unaufhörliches Raunen des Erstaunens liegt beim Blättern durch den beeindruckenden Band in der Luft. Warum? Weil es dem deutschen Comiczeichner und Illustrator Jens Harder auf irrwitzige Weise gelungen ist, mit einer Bilderfolge aus etwa 2000 Einzelbildern die Evolution unseres Kontinents detailgetreu, einfallsreich und verständlich zu erklären.
Dabei hat Harder so ziemlich jede Schallmauer durchbrochen, die auf seinem Weg lag. Die der zu erzählenden Zeit, die der berücksichtigten Fachdisziplinen und die seiner eigenen künstlerischen Kreativität. Sechs Jahre arbeitete er an „ALPHA … directions“, um die ersten 14 Milliarden Jahre der Erdbiografie nahezu lückenlos zu erschließen, angefangen bei der Verdichtung von Masse vor dem Urknall bis zum Auftauchen des ersten Menschen auf dem Planeten Erde. Etwa 2.000 Bilder braucht er, um vom abstrakten Rauschen im Nichts bis zum sehr konkreten ersten Speerstoß eines Urmenschen zu gelangen. Hier endet der erste Teil seiner Erderzählung. Von der daran anschließenden Hominidenevolution will er in dem Folgeband namens „BETA … civilizations“ berichten. Im abschließenden Teil seines Mammutvorhabens einer umfassenden Erzählung der Weltgeschichte „GAMMA … visions“ will er dann Zukunftsvisionen und -aussichten in den Blick nehmen. Was soll man zu einem solchen Projekt sagen? Wahnsinn? Vielleicht. Verrückt? Möglicherweise auch das. Überwältigend? Ganz sicher.
Und schaut man sich an, mit welcher Akkuratesse und Detailverliebtheit, aber auch mit welcher Intelligenz und Weitsichtigkeit Harder in dem vorliegenden ALPHA-Band wissenschaftliche Daten, Fakten und Erkenntnisse aus den verschiedensten Fachrichtungen mit – teils die wissenschaftlichen Erkenntnisse konterkarierenden – weltanschaulichen und kulturgeschichtlichen Erklärungsansätzen sowie mythischen Verarbeitungen in Verbindung bringt, kann man den noch geplanten Bänden nur freudig gespannt entgegenschauen.
Jens Harder gehört zu den Besten in der deutschen Comicszene. 1970 in Weißwasser geboren, studierte er von 1996 bis 2003 Grafik an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Für seine Sudienabschlussarbeit „Leviathan“ erhielt er 2004 auf dem Comic-Salon in Erlangen den Max- und Moritz-Preis für die „Beste deutsche Neu-Publikation“ und wurde im gleichen Jahr auf dem europaweit wichtigsten Comictreffen im französischen Angoulême für den „Preis für die beste Zeichnung“ nominiert. Vor sechs Jahren noch ging Harder in Frankreich leer aus (auch wenn die Nominierung seines Erstlingswerks allein schon eine große Anerkennung war). In diesem Jahr aber brachte er eine Trophäe von der französischen Comicmesse mit. Für „ALPHA … directions“ erhielt er in Angoulême den Preis für den kühnsten Beitrag („Prix de l’audace“). Und nichts anderes als kühn und einzigartig kongenial ist dieses Feuerwerk der Comickunst. Nicht umsonst wurde „ALPHA … directions“ beim Comicsalon in Erlangen Anfang Juni auch noch zum besten deutschsprachigen Comic des Jahres gekürt.
Forsch, visionär und mit dem Einfallsreichtum des großen Erzählers hat sich Harder durch die Weltgeschichte gezeichnet. Dabei hat er Bilder für bisher Ungesehenes, Unerklärtes und Unbewiesenes geschaffen, ohne dabei an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Denn all das, von dem er zeichnender Weise berichtet, ist wissenschaftlich hergeleitet, unterfüttert oder belegt.
Die ersten einhundert Seiten sind der Entstehung des Universums und der planetaren Konstellation sowie dem „Orchester der Naturgewalten“ im Urozean in den ersten 10 Milliarden Jahren seines Betrachtungszeitraums gewidmet. Dieser Teil ist vor allem auch eine Auseinandersetzung mit den kulturgesellschaftlichen Erklärungsansätzen des Entstehens der Erde. Ein kongenialer Auftakt, in dem er wissenschaftliche Erkenntnisse den kultisch-religiösen Erklärungsansätzen der turbulenten Weltentstehung gegenüberstellt. Und auch die darauf folgenden 250 Seiten haben es in sich und fesseln den Leser an eine textlich auf ein Minimum reduzierte biografische Bilderzählung des Weltenlaufs, die seinesgleichen sucht. Unabhängig davon, ob Harder die Entstehung erster biochemischer Grundbausteine des Lebens, die Driftbewegungen der Kontinentalplatten, die Entstehung von Fossilien oder die Evolution der Erdbewohner (angefangen bei den ersten Zelllebewesen und über deren Fort- und Weiterentwicklung zu Muschel- und Krebsartigen, einfachen Wirbeltieren, Urfischen, Insekten, Amphibien, Reptilien, Dinosauriern und Säugetieren) in den Fokus seiner chronologischen Betrachtungen nimmt – die zeitliche und kausale Einordnung der zahlreichen Einzelereignisse in die Evolution der Erde hat es in der Art noch nicht gegeben.
Harders Hauptaussage dieses Werks lautet, dass es keine feste Größe oder eine steuernde höhere Instanz gibt, wie sie Kreationisten und religiöse Fundamentalisten mit ihrem Gottbezug proklamieren. Ganz im Gegenteil, alles ist im Fluss. Die Artenvielfalt auf unserem Planeten ist das Resultat des ständigen Veränderungs- und Anpassungsdrucks, dem Lebewesen auf diesem Planeten in den Jahrmillionen ausgesetzt waren und es heute noch sind.
Dem Comiczeichner und Wissenschaftsfreund Harder gelingen in seinem Werk außerdem zeitliche Sprünge auf engstem Raum, die aus der biografischen Analyse des Erdenlebens in eine Art Weltstrukturanalyse herausführen. Etwa wenn er anhand zahlreicher Beispiele erklärt, wie sich bestimmte Grundmechanismen oder Bauarten der Natur in einzelnen Nischen immer wieder ansiedeln, egal ob vor einigen hundert Millionen Jahren oder heute (bspw. Styracosaurus und Nashorn). Oder wenn er knapp vier Milliarden Jahre in einem einzigen Bild überwindet, indem er die gerade entstandene Doppelhelix als Grundbaustein allen Lebens in ein Telefonkabel übergehen lässt. Zeichnungen wie diese (von denen es eine Vielzahl gibt) machen die einzigartigen Möglichkeiten des Mediums Comic deutlich.
Und auch dies war ein Anliegen dieses wahnwitzigen Comicbandes, der – in der Literatur würde man sagen „zwischen den Zeilen“ – auch eine Hommage an die Historie der Bildgeschichte von der Malerei bis zum bewegten Bild ist. Von Dürer über Botticelli, van Gogh und Magritte bis hin zu Lichtenstein (um nur einige zu nennen) erweist er mit Anspielungen und Bildübernahmen den großen Malern die Ehre. Carl Barks, Hergé und Lewis Trondheim sind nur drei der zahlreichen Comicgranden, deren wegweisende Arbeiten in „ALPHA … directions“ mit einfließen.
Von A wie Astrologie, B wie Biologie, C wie Chemie, D wie Darwin, E wie Evolution usw. bis hin zu Z wie Zivilisationsgeschichte – Jens Harders „ALPHA … directions“ hat den Rang einer umfassenden interdisziplinären Doktorarbeit, der nur die Auszeichnung magna cum laude gerecht werden kann. Die bessere Verständlichkeit von diesem Werk, welches ebenso für den achtjährigen Sohn wie für die 80-jährige Großmutter geeignet ist (auch wenn das Thema wohl eher die männlichen Leser anziehen wird), im Vergleich zu jeder anderen Dissertationsschrift ist dabei das Alleinstellungsmerkmal dieses fulminanten Comicbandes, der in verständlicher und oft auch erhellender Weise eine ganze Bibliothek voller Sach- und Fachliteratur zur Entstehung und Entwicklung der Welt ersetzt.
Thomas Hummitzsch
Jens Harder: ALPHA … directions. Carlsen-Verlag. Hamburg 2010. 352 Seiten. 49,90 Euro. ISBN: 3551789800
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Homepage des Zeichners: www.hardercomics.de