4. Oktober 2010

Alle Neune!

 

Auch dieses Editionsprojekt ist nun an sein Ende gekommen. Mit dem jetzt veröffentlichten Band 3 der Werkausgabe liegen die wichtigsten „Schriften“ Franz Overbecks vor (Band 1-3). Außerdem umfasst die in den 1990er Jahren begonnene und auf 9 (Teil-)Bände angelegte – und nun wie gesagt abgeschlossene – textkritische Werkausgabe ausgewählte kirchenlexikalische Texte sowie Autobiografisches, u.a. Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde. Franz Overbeck (1837-1905) war Professor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an der Universität Basel und wird – abgesehen von Theologen und Insidern – den meisten Lesern wohl allenfalls über die Station Friedrich Nietzsche, der in jungen Jahren ebenfalls in Basel lehrte, ein Name sein. Dabei ist Overbeck es wert, dafür in Erinnerung zu bleiben, im Laufe des 19. Jahrhunderts daran mitgewirkt zu haben, einen literaturwissenschaftlichen Ansatz in Anschlag zu bringen, der später als „formalistischer“ bekannt geworden ist.

 

Im Zentrum des jetzt veröffentlichten dritten Bandes stehen „Drei Patristische Schriften“: Über die Anfänge der patristischen Literatur aus dem Jahr 1882; Über die Anfänge der Kirchengeschichtsschreibung aus dem Jahr 1892 und schließlich Die Bischofslisten und die apostolische Nachfolge in der Kirchengeschichte des Eusebius von 1898. Man kann nicht sagen, dass diese Titel notwendigerweise ein aktuelles Interesse seitens der Leserschaft beanspruchen dürfen. Dennoch lohnt ein Blick in die – wie ich finde – vor allem erste dieser Schriften, in der es u.a. um das Verhältnis von kanonischen Texten und dem Beginn von literarischen Reihen sowie um Anschlussfähigkeit geht.

 

Unter Patristik versteht Overbeck die „griechisch-römische Literatur christlichen Bekenntnisses und christlichen Interesses“. Ganz zu Recht haben frühe Rezensenten dieser Schrift auf ihren prolegomenatischen Charakter hingewiesen, denn Overbeck stellt eine veritable Geschichte der patristischen Literatur nur in Aussicht, um zunächst einmal auf ein methodologisches Problem hinzuweisen, was denn überhaupt zu einer solchen Literatur gehöre und was davon auszuscheiden sei. Es sind nämlich vor allem formale Kriterien, die den Basler Professor dahin führen, einen Bruch zu konstatieren zwischen der sogenannten „christlichen Urliteratur“ (wozu die vier Evangelien gehören, die Apostelgeschichte und die Apokalypse) und eben den Anfängen der Patristik. An einer entscheidenden Stelle der Schrift aus 1882 heißt es: „Evangelium, Apostelgeschichte und Apokalypse sind historische Formen, die von einem ganz bestimmten Zeitpunkt an in der christlichen Kirche verschwinden. Und zwar fehlen sie in ihrer Literatur von diesem Zeitpunkt an nicht nur thatsächlich, sondern es besteht gar keine Möglichkeit ihrer ferneren Pflege mehr.“

 

Man sieht an dieser Stelle deutlich, dass Overbecks Form-Begriff alles andere als unhistorisch ist (wodurch sich im 20. Jahrhundert verschiedene Spielarten des Formalismus auszeichnen werden). Den eigentlichen Bruch mit der urchristlichen Literatur besorgt nach Overbeck Clemens von Alexandrien, mit dem die Patristik überhaupt anfange: „Ein solcher Anfänger aber ist er [Clemens] in der That, …wenn er zuerst das Christenthum in den Formen der profanen Weltliteratur für die christliche Gemeinde selbst darzustellen unternommen hat.“ Begriffsgenetisch besteht nach den Worten der Herausgeber Erklärungsbedarf: „Der Gebrauch der Begriffe Form, Formenvergleichung Gestalt, Organismus bei Overbeck und ihre wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen sind noch weitgehend ungeklärt.“ Jede der drei patristischen Schriften, nach einer allgemeinen Einführung, wird gesondert vorgestellt und mit Anmerkungen versehen (die manchmal auch die Anmerkungen Overbecks kommentieren). Ein textkritischer Anhang präsentiert Varianten und bietet eine Einführung in die Rezeptionsgeschichte.

 

Im Anschluss findet der Leser, auf gut hundert Seiten, eine Auswahl der 90 Rezensionen, die Overbeck im Laufe seines Gelehrtendaseins für verschiedene Publikationsorgane verfasste, u.a. zu David Friedrich Strauß (über den Nietzsche seine erste Unzeitgemäße Betrachtung schrieb), Ernest Renan und Karl Theodor Keim. Es war ein Thema der Zeit, das viele Autoren dieser Zeit (spätestens seit Friedrich Schleiermacher) umtrieb: das Verhältnis zwischen dem „Christus des Glaubens“ und dem „Jesus der Geschichte“. Vielleicht wird man durch den Lauf der Zeit dazu eingeladen, sich einer wichtigen Position Overbecks zu erinnern: der Thematisierung von Glaubens- und Kirchengeschichte als Literaturgeschichte.

 

Dieter Wenk (10-10)

 

Franz Overbeck: Werke und Nachlaß Band 3 – Schriften bis 1898 und Rezensionen, hrsg. von Hubert Cancik und Hildegard Cancik-Lindemaier, Stuttgart, Weimar 2010 (Metzler)

 

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