4. Oktober 2010

Buchpreis 2010

 

Die Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji erhält für ihren Roman «Tauben fliegen auf» den Deutschen Buchpreis. amazon

 

Mit im Rennen war Jan Faktor.

 

„Meine frauheit-zentrierten, aber auch sachwelt-orientierten Aufwallungen von Begeisterung mündeten bei mir – egal, wie kurzzeitig und punktuell sie waren – oft unmittelbar in Verliebtheiten. Dabei waren die Übergänge von diesen diffusen Gefühlsschüben zu den konkreteren starken Liebesgefühlen mehr als fließend. Ich konnte mich während völlig unterschiedlicher Phasen meines Lebens - bitte nicht lachen - in vollkommen gewöhnliche Eckhäuser verlieben, ich konnte mich in ganze Gebäudekomplexe verlieben, wenn mir dort etwas Beglückendes widerfahren war. Ich liebte beispielsweise fünf Jahre lang ein Krankenhaus…“

 

Dieses Zitat mag einen Eindruck vermitteln, womit wir es hier auf über 600 Seiten zu tun haben. Mit einem über- und ausbordenden Sprachkonvult der Gefühle, Abhängigkeiten und Betrachtungen, den Straßen und Baustellen, Bussen und Müllautos, Krankheiten und Gebrechen – einer Stadt und eines jungen Mannes. Georg ist der dem Autor ziemlich nahestehende Romanheld, in dessen Prager weiberlastiger Welt über 20 Jahre hinweg Gerüche, Flüssigkeiten und Geräusche dominieren. Wir erfahren alles. Wo es klebt und krümelt, schmiert und schliert. Wie die Wäsche gewaschen wird, der Pfeifenrauch entsorgt, wer gerade weint, menstruiert oder fußpilzt. Nackte Haut, Gekröse, Warzen, Geschwüre. Dicke Bäuche, Blinde, Bucklige. Es wimmelt nur so von Abartigkeiten – nur Georgs Mutter ist wunderschön und ein wenig depressiv. Dass der Junge/Mann dennoch nicht von ihrer Seite weichen will, leuchtet dem Leser nicht unmittelbar ein.

 

Überhaupt darf in diesem Sammelsurium nicht nach Geleit oder gar einem durchkomponierten Handlungsablauf gesucht werden. Das hat aber auch etwas für sich. Man kann zwischendurch ganz andere Bücher lesen, die sich in einer Nacht bewältigen lassen und einem Schauer über den Rücken jagen, wie „Schuld“ von Ferdinand von Schirach, oder „Die Zeit wird es zeigen“ von Mira Magen. Beide klasse, spannend und schnell zu verschlingen. Doch kommen wir zurück zu Jan Faktor. Vielleicht hat er sich tatsächlich mehrere Winter in einer slowakischen Berghütte eingeschlossen, Dutzende Tonbänder mit Kindheitserinnerungen besprochen und diese dann munter in den vorliegenden Roman gemischt, hin und wieder auf „wie bereits erwähnt“ oder „wie schon oben beschrieben“ verwiesen und dann weiterfabuliert. Es ist ein Genuss, ihm darin zu folgen, aber ein schwieriger. Einzelne erzählerische Ausflüge haben Novellencharakter, wie die unheimliche, weil so wahrhaft übertriebene Fahrt durch die DDR in ein ehemaliges Arbeitslager der Nazis in Polen, in der besonders der Besuch einer Gaststätte am Stadtrand Görlitzens dem Leser Lachtränen in die Augen treibt. Danach wird es böse. Tödliche Unfälle und tierbegleitete Liebesabenteuer sind ebenso eingestreut wie Kunstobjekte aus lebenden Grasquadern, Exkurse in tschechischer Literatur und Philosophie, Anleitungen zum Bergsteigen und Gedanken über die unerfreuliche Evolution der Mösenhaltung innerhalb des Übergangs der Menschenäffin zur Frau.

 

Es bleibt zu hoffen, dass der in Natura höchst ausgeglichen wirkende Autor die Traumen seiner Jugend, wenn sie nur in einem Bruchteil denen des Georg entsprächen, spätestens mit der Niederschrift dieses Mammutwerkes „verarbeitet“ hat. Der Abgesang auf seine bröckelnde Heimatstadt ist allein ein kleines Wunder, das seinen Platz im Kanon literarischer Stadtbeschreibungen finden wird. Dank an den Verlag für die freundlicherweise abgedruckte Ansicht des Stadtplans von Prag mit Hervorhebung der filigran und wortreich benannten Gebäude und Plätze. Beim nächsten Pragbesuch werden wir das barocke Tor suchen, die Straßenbahnlinie mit dem längst abgewaschenen Blutfleck und an manchen Häusern hinaufspähen… Tja, nach überstandener Lektüre ist es nun doch passiert – bitte nicht lachen – wir haben uns ein bisschen in Jan Faktor, ehmm, Georg und seine Sorgen verliebt.

 

Anne Hahn

 

Jan Faktor, Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag, Roman, 637 S., Kiepenheuer&Witsch, 2010, 24,95 €

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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