20. September 2010

Punkt, Punkt, Punkt-Ethnografie

 

Gespenster in einer europäischen Großstadt zu suchen, mag auf den ersten Blick lächerlich wirken, widerspricht doch der ernsthafte Glaube an die Existenz unsichtbarer Geistwesen und ihr Einwirken auf den menschlichen Alltag einem landläufigen modernen Selbstverständnis. Demnach finde man solche Relikte vormodernen Denkens, wenn überhaupt, höchstens noch in zurückgebliebenen Nischen der Provinz. Und so muss sich auch Sarah Khan bei ihrer Suche nach „echten Berliner Gespenstergeschichten“ die zornige Frage des Fotografen Jim Rakete gefallen lassen, warum sie sich „mit so einem Scheiß“ (37) beschäftige. Glücklicherweise hat sie dessen vernichtendes Urteil nur kurz verunsichert und nicht dauerhaft von ihrem Vorhaben abgebracht, als „Geisterjägerin“ (138) bzw. „Gespensterreporterin“ (146) auf „Geistergeschichtenjagd“ (38) zu gehen. Denn sie zeigt in 14 Kapiteln, dass Gespenster weder in der DDR noch im Berlin des 21. Jahrhunderts einfach verschwinden, sondern durch die Allgegenwart des Unheimlichen in vielfältiger Gestalt immer wieder aktualisiert werden – das Unheimliche, nach Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache „nicht vertraut, fremd, entfremdet, unfreundlich, ungnädig; feindlich, schädigend, beunruhigend, unzuträglich, unbequem; unfriedlich, bösartig, unerfreulich, gefährlich, bedenklich [...], erst seit dem ende des 18. jhs. mit engerer beziehung auf das gefühlsleben schrecklich, grauenvoll; schauder, angst, entsetzen, furcht, beklemmung, unbehagen, befangenheit, abneigung u. ä. verursachend“.

 

Wenn das Heim unheimlich wird, hält die europäische Tradition ein reichhaltiges Angebot an Metaphern zur Interpretation solcher Empfindungen bereit. Und so manifestieren sich die Geister in den Körpern der Lebenden. Mit den Gespenstern drängt die Vergangenheit in die Gegenwart und überlagert sie. Als „Echos aus vergangenen Zeiten“ (133) rufen Gespenster die Geschichte ins Bewusstsein und Gespenster wären nicht Gespenster, wären diese Erinnerungen besonders schön. So handeln Gespenstergeschichten zumeist von tragischen Schicksalen, von Unglück, Schmerz und Unterdrückung. Der Tod rückt in den Blick und in Khans Berlin ist dieser Tod heute vor allem mit dem Holocaust verbunden.

 

Gespenster verweisen auf etwas Unsichtbares, Verborgenes und eröffnen damit einen nahezu unendlichen Raum der Möglichkeiten. Sich auf Gespenster einzulassen, heißt daher, sich im Zeichenlesen zu üben. Wie offensichtlich auch bei Sarah Khan kann dies eine Lust am detektivischen Kombinieren und Entschlüsseln entfachen, die jedoch nie frei ist von einer Kreativität, die die Geister überhaupt erst zum Leben erweckt – die Suche haucht ihnen Leben ein. Zum Verborgenen gehört auch das Verbergen und zum Verbergen die Unterstellung eines Interesses. Dieser Effekt lässt sich auch bei Sarah Khan beobachten, die bei ihrem Kontakt mit einem unkooperativen Antiquar von dem Verdacht eines zurückgehaltenen Geheimnisses erfasst und getrieben wird – ohne dabei jedoch eine erkennbare Vorliebe für Verschwörungstheorien und einen Hang zur Paranoia zu entwickeln, wie es erfahrungsgemäß nicht wenige tun, die sich längere Zeit mit Gespenstern beschäftigen.

 

Sich auf Gespenster einzulassen, heißt zunächst einmal weniger, ein Glaubensbekenntnis abzulegen, als sich auf ein Spiel mit Mehrdeutigkeiten einzulassen – eine Erkenntnis, die auch Sarah Khan macht, wenn sie verwundert feststellt, dass die Gespenster von Berlin ihre Gesprächspartnerin Silke „nicht dazu verleiten können, gleich das ganze Weltbild zu verändern“ (24). Auch Khan selbst verfällt nicht in einen einseitigen Geisterglauben, sondern eröffnet ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen der gleichen Begebenheiten. Und wenngleich sie bekennt, lieber an die aufgrund ihres seltsamen Verhaltens vermuteten gespensterfühligen Fähigkeiten der Katze ihrer Gesprächspartnerin Annika glauben zu wollen, als bei der „viel traurigeren“ (138) Diagnose eines genetischen Defektes stehenzubleiben, muss sie doch nur an eine künstlerische Performance denken, als ein Punk auf dem Balkon des Nachbarhauses stundenlang die klassischen Anzeichen einer Geistbesessenheit zeigt, bevor er schließlich von der Polizei abgeholt wird.

 

Sarah Khans Text erweist sich als eine Art Feldforschungstagebuch ihrer Suche nach dem Unvertrauten im eigenen Land, in der eigenen Stadt. Was sie beschreibt, sind Prozesse: die Herstellung der Kontakte, den Verlauf von Gesprächen, die eigenen Gedanken, Stimmungen, und Selbstzweifel, die Erfolge wie das Scheitern. Dabei benutzt auch sie bestimmte „Codes des Authentischen“ (109), wie sie die Stilmittel in den von ihr gekauften Büchern über Geister nennt. Bei ihr sind es vor allem die Ich-Erzählerin, die sich von Anfang an als die Schriftstellerin Sarah Khan zu erkennen gibt, das Zitieren von E-Mails und Briefen, die Wiedergabe mündlicher Dialoge, zum Teil in Interviewform, die Nennung von Zeiten, realen Orten und realen Namen sowie vereinzelte Hinweise auf Anonymisierungen, das Anführen von Zeugen und die Versicherung: „Nichts davon ist ausgedacht“ – das alles verleiht dem Text eine Aura des Dokumentarischen. Dennoch zieht Khan keine klare Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. „Das alles tun Gespenster wirklich. Diese Handlungen sind feste Bestandteile unserer kulturellen Vorstellungswelt, die wir in der Literatur ausleben“ (137), heißt es unvermittelt und daher etwas kryptisch am Ende einer Aufzählung gespenstischen Verhaltens. Und so wundert es auch nicht mehr, wenn ihr etwa der Film „The Sixth Sense“ als Informationsquelle über Gespenster dient. Khan zeigt, dass Gespenster auch außerhalb der Literatur existieren, indem sie für viele Menschen Realität besitzen und deren Alltagswelt beeinflussen. Indem Khan die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion offen lässt und sowohl ihre Gesprächspartner/innen als auch ihre Gespenstergeschichten ernst nimmt, erweist sie beiden ihren Respekt und verzichtet darauf, sie bloßzustellen.

 

Oft bleibt jedoch unklar, wonach Khan eigentlich sucht, was sie eigentlich an den Gespenstergeschichten interessiert, ihr Inhalt, ihre Form, ihr kulturgeschichtlicher Hintergrund, die Gespenster selbst mit ihren individuellen Schicksalen oder diejenigen, die Gespenstergeschichten erzählen. Sie präsentiert weniger fertige Geschichten als die Suche danach. Die Geschichten versanden zum Teil noch ehe die Figuren in ihr ausreichend Kontur gewonnen haben, Assoziationen werden angedeutet, aber nicht weiter verfolgt. Oft entsteht der Eindruck, es sei vor allem die Sensationslust, die sie antreibt. Der Erfahrungsprozess scheint wichtiger als das Ergebnis, ihre eigene Suche nach Gespenstern wichtiger als das Finden und in vielen Fällen wäre eine ausdauerndere Recherche und ein hartnäckigeres Nachfragen wünschenswert gewesen. Doch was sich zunächst sehr unbefriedigend darstellt – ihr planloses Herumirren und ihre egozentrische Sensationslust – lässt sich auch positiv deuten: Denn die aus ersterem resultierende Vagheit und die mit letzterem einhergehende Betonung der Erfahrung sind für eine gelungene Bearbeitung und ein Verständnis dieses Themas unumgänglich. Führte ihre Suche zu eindeutigen Konturen, wären die Gespenster um ihr Geheimnis beraubt. Durch Licht verschwindet der Schatten und nicht zufällig sind identifizierte Gespenster oft auch erlöste und damit letztlich verschwundene Gespenster. Nur das Geheimnisvolle ermöglicht das, worum es Khan bei dieser Suche zu gehen scheint: die körperlich spürbare Sensation, die sinnliche Erfahrung des „große[n] Schauer[s]. Die Gänsehaut, als die Zeiten überspringende Botschaft aus dem Reich der Toten und Vergessenen“ (127).

 

Bei der Beschreibung ihrer Gespensterjagd im Bethanien ruft Khan den Verstorbenen Fontane in Erinnerung, der Ende des 19. Jahrhunderts den autobiografischen Bericht seiner Erlebnisse im Bethanien mit einem „und ich dachte ...“ abschließt, dadurch gewohnte Deutungen in Frage und die Möglichkeit der Existenz eines lärmenden Gespenstes in den Raum stellt. „Drei Pünktchen, die alles oder nichts bedeuten, die vage sind und unbefriedigend“, wie Khan resümiert. „Drei Pünktchen nur. Fontane war ein sehr bewusster Autor, er pflegte zwar Manierismen, doch kalkuliert. Wenn er sich entschloss, in seinen Memoiren das Lebenskapitel Bethanien mit diesem angedeuteten Gespenst zu beschließen, dann war das keine spontane Lust, kein lapidarer Witz und kein Versuch, sondern eine Aussage über den Charakter von Bethanien“ (76-77). Khan scheint sich in diesem Sinne Fontane als Vorbild genommen zu haben. Indem auch sie sich der vagen Andeutung und Uneindeutigkeit bedient, hat sie eine Drei-Punkte-Ethnographie zeitgenössischen Geisterglaubens geschrieben, die weniger auf Dokumentation und Deutung, denn auf ein emphatisches Verständnis des Geisterglaubens abzielt und so auch ihren Leser/inne/n die Möglichkeit erhält, sich von dem ambivalenten Schauder des Unheimlichen erfassen zu lassen. Ein Verständnis von Gespenstern bekommt dadurch eine ganz andere Qualität als durch jede erklärende Abhandlung.

 

Ehler Voss (ehler.voss@uni-leipzig.de)

 

Sarah Khan: Die Gespenster von Berlin. Unheimliche Geschichten. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon