16. November 2003

Schema, übernehmen Sie!

 

Wenn man in ein Café geht und ein Getränk bestellt, möchte man von der Bedienung nicht hören, dass sie gerade keine Lust habe oder keine Bestellung aufnehmen könne, weil sie erst zwei Tage im Geschäft sei. Wo immer man auftaucht, sind die Dinge schon längst geregelt. Spannend wird es, wenn man Bereiche entdeckt oder erfindet, für die das nicht gilt. Da diese Spannung eher nicht geduldet wird – jedenfalls nicht im großen, gesellschaftlichen Rahmen, der das individuelle Abenteurertum übersteigt –, gibt es spezielle Betätigungsfelder, vor allem als experimentelle Wissenschaft, in denen nach den Prozessen gesucht wird, die unter normalen Bedingungen gar nicht mehr existieren, weil jeder sich nach den allseits bekannten Erwartungen richtet. Was geschieht, wird dann gefragt, wenn Grenzen fallen oder noch nicht richtig etabliert sind.

Was will „Das Experiment“? Erstaunlicherweise wählt der federführende Wissenschaftler als Ort des Experiments die Situation des Gefängnisses. Was will man in so einem fest gezurrten System eigentlich testen? Wo alles und jedes rigoros festgelegt ist. Wo es schlichtweg nichts zu testen gibt, sondern wo man nur brav absitzt? Der Trick dieses „Experiments“ besteht darin, dass den „Gefangenen“ zwar eine Ordnung vorgelesen wird, diese aber so offen ist, dass sie Spielraum genug übrig lässt für Beziehungslagen und deren Interpretation. Noch nicht mal streng genommen handelt es sich in diesem Film also um eine Gefängnissimulation. Anders als im echten Gefängnis muss hier zwischen den eingeteilten „Gefangenen“ und dem „Wachpersonal“ erst mal ein Gleichgewicht austariert werden. Deshalb verläuft der erste Tag oder die ersten Momente in den neuen Rollen ja auch eher lustig, vor allem natürlich auf Seiten der Gefangenen. Man hat es also hier, in diesen ersten Situationen, mit Handlungen vor weichen Mauern und unsauberen Rändern zu tun.

Und genau hier passiert ja auch die entscheidende Asymmetrie. Die Handlungen der Gefangenen sind nicht begründungspflichtig, sie müssen letztlich nur gehorchen. Sie mögen irritieren und stänkern, dann werden sie eben zurückgepfiffen. Aber weil eben das Maß noch nicht da ist, die Härte oder Nachsichtigkeit des Umgangs mit den Gefangenen erst noch entwickelt werden muss, sind es die Wächter, die hier die Situation definieren. Sie müssen sich in dieser Anfangssituation fragen, was von ihnen erwartet wird als Wächtern, wenn die Gefangenen nicht spuren. Die Gefangenen sind nur den Blicken der Wächter ausgesetzt, die Wächter sind immer doppelt gebunden, sie müssen auf die Gefangenen reagieren, und sie müssen sich fragen, wie sie reagieren müssen, weil im Hintergrund die Kamera lauert und das Experiment bei Fehlverhalten jederzeit abgebrochen werden kann. Das ist ja eigentlich ziemlich spannend.

Den Trick mit der Simulation sieht man dem Film gerne nach, die Sache kann überhaupt nur so anlaufen, sie braucht Spielraum, den es unter echten Verhältnissen nicht gäbe. Was man dem Film aber nicht verzeiht, ist das spielfilmmäßige, das der Regisseur dem Experiment unterlegt. Er scheint nur das Gesetz der Eskalation zu kennen. Das er gnadenlos durchzieht. Gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass das eben nur ein Experiment ist, begrenzt auf 14 Tage, nach denen man bequem mit 4000 Mark nach Hause gehen kann. Der Film zeigt kein Experiment, sondern die Abwesenheit der Wissenschaft(ler). Oder eine Wissenschaft, die zwischen Dilettantismus und Dämonie pendelt. Das Ergebnis lautet dann, je nach Bezug, dass der Mensch nachlässig, inkompetent, faul sei (Bezug Wissenschaft), oder dass er böse ist (Bezug ?), wenn er nicht in Ketten gelegt wird. Ziemlich bald erreicht der Film ein Niveau, wo es nur noch ärgerlich wird. Das deutsche Kino ist in Teilen immer noch so fixiert, dass es die Dinge nur in nationalsozialistischen Kategorien denken kann. Die Wärter sind dann SS, und das Gefängnis ein KZ. Albtraumhafte Szenen im Führerbunker. Verschwörung der Juden. Die Stellung muss gehalten werden. Wenn dann die Frau Doktor vergewaltigt wird, muss man wirklich brechen. Aus Ekel vor diesem miesen Skript. So ein Film muss aber unbedingt noch mal gedreht werden. Vielleicht eher als Doku. Nicht so viele Vorgaben von außen. Dann wird der Film vielleicht langweilig, aber so ist der Knast nun mal. Möglicherweise auch die Wissenschaft.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Oliver Hirschbiegel, Das Experiment, D 2000</typohead>