2. August 2010

Faust und Stein

 

Zehn Jahre nach der deutschen Weltausstellung

 

„Mensch, Natur und Technik – Eine neue Welt entsteht.“ So das Motto der Expo 2000, Hannover. Nicht viel ist in Erinnerung geblieben. Die Zeiten, da ‚Expos’ Zeichen setzten, sind vorüber: Mit Brüssels Atomium (1958) dürfte Weltausstellungs-Architektur letztmals bild- und epochenprägend nach Art des Eiffelturms gewirkt haben. Ob solches für die Zukunft ausgeschlossen ist, steht dahin: Extremarchitektur, die sich erfolgreich als Zeit-Zeichen ausgibt, ist immerhin möglich. Man denke an Koolhaas’ und Herzog/de Meurons Olympia-Bauten in Peking. Die Expos freilich haben seit Jahr und Tag keine solche Architektur zu bieten vermocht, Shanghai 2010 inklusive. Die schöpferische Kraft der Weltausstellungen um 1900 – sie konnten qua Kulturimport grundstürzend Neues auslösen, wenn etwa Debussy Gamelan-Musik zu Ohren kam – wird von keinem gedungenen Expo-Feuilletonisten noch ernstlich in Anspruch genommen.

 

Wenn sich die Expo 2000 deutschen Zeitgenossen mit kulturellen Aspirationen eingeprägt hat – dies außerhalb Hannovers, das um ein Trümmerfeld und manche Musterbauten reicher ist, ein wenig wie nach Bundesgartenschauen –, so dank dem Peter Stein’schen ‚Faust’-Projekt, das seitens Steins für diesen Anlass nicht vorgesehen war – so wenig, wie die Expo-Initiatoren Goethes ‚Faust’ im Sinn gehabt haben mögen. Der Zufall hat es gefügt: Die Expo hatte reichere Ressourcen als das kleinmütig-klamme Berlin der 90er Jahre. Aus diesem Grunde ließ sich Peter Stein, charakteristisch grollend, auf das Hannoveraner Unternehmen ein.

 

„Mensch, Natur und Technik – Eine neue Welt entsteht“. Das Expo-Motto sollte Zukunftsoffenheit und Kosmopolitismus ausdrücken. Zugleich könnte es Audi-Reklame oder Werbeplakaten der Grünen entnommen sein. Auf Goethes ‚Faust’ jedenfalls passt es bestens. Dass dieser, als Lesedrama erdacht – das einzig in krude gekürzter Form, ad usum delphini, aufgeführt werden kann –, durch Stein erstmals komplett, bei fünfzehnstündiger Aufführungsdauer, und ohne ‚Interpretation’, vielmehr im unbeirrten Glauben an Goethes Verbalinspiration, buchstabengetreu bis ins Letzte, geboten wurde – wiewohl Faust und Mephisto entgegen Goethes Vorschrift unter mehrere Schauspieler aufgeteilt wurden –, dies alles hebt das Stein’sche ‚Faust’-Vorhaben weit über Staats- und Stadttheater-Routine hinaus, auf Welt- oder Weltausstellungsniveau.

 

Tatsächlich hatte Stein den ‚Faust’ im Vorfeld mehrfach öffentlich komplett gelesen. Als Bruno Ganz, dem der größere Teil des ‚Faust’-Parts anvertraut war, sich stürzend eine der Hände brach – fatal, weil Ganz Fausts Verse händisch gestenreich zu unterlegen pflegt –, wurde ernstlich spekuliert, ob Peter Stein selber den Faust geben würde. In Wahrheit übernahm Christian Nickel, als junger Faust und Einspringer für den alten von Anfang an vorgesehen. Ob dies der Aufführung zum Vorteil gereichte, ist umstritten:

 

„Steins „Faust“-Projekt war ganz auf seinen Lieblingsschauspieler [Bruno Ganz] abgestellt, ja dessen Mitwirken war Steins Bedingung. Die stets geerdete, im Konkreten verwurzelte Sprechkunst des Schweizers sollte die „Magustragödie“ des ersten Teils und das Ende der „Weltfahrt“ im zweiten tragen. Dass Christian Nickel, im weißen Frack der Goethezeit ein seltsam ballettöser Jung-Faust, nun auch noch dumpfstimmig und rheumachargierend den Alten gab, war zwar heroisch und rettete die Premiere und die gesamte Expo-Aufführungsserie, liegt indes lähmend auf der ohnehin rhythmusschwachen, umständlichen Aufführung.“ So Andres Müry in einer der bösesten, intelligentesten Rezensionen.

 

Der Monumentalismus des Projekts hatte geradezu Bayreuthische Dimension: Zum Millennium sollte Goethes authentischer ‚Faust’ ‚uraufgeführt’ werden, mit Millionen-Budget und eigens rekrutiertem Ensemble. Daimler, Deutsche Bank und andere stellten Gelder zur Verfügung. Solche seltsame Verschränkung von Größenwahn wie päpstlicher Allüre mit Demut vor dem Werk bringt im deutschen Theater nur Peter Stein auf. Sein Kult um die eigene Person als einzig ernsthaften Diener und Dolmetsch des Werks rückt ihn in Sergiu Celibidaches Nähe. Mit diesem allein teilt er die Merkwürdigkeit, dass Interpretations-Verzicht zum ‚Markenzeichen’ des Interpreten gerät und dessen Eigenart garantiert: Sich-Erniedrigen und Sich-Erhöhen sind eins.

 

Das Monumentale allein ist es nicht, dass ‚Faust’, die Expo und Stein füreinander prädestinierte. Kein Werk der Weltliteratur weiß, anfangs des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus, mehr über „Mensch, Natur und Technik“ mitzuteilen. ‚Faust II’, ‚unspielbar’, nie aufgeführt zu Goethes Lebzeiten, enthält ‚Dialektik der Aufklärung’, ‚Haben oder Sein’ und ‚Antiquiertheit des Menschen’ in sich, und Fausts Homunculus ist Zeitgenosse der gentechnisch sich regenerierenden Welt. Weil Goethe dies und mehr in seine Textlandschaften eingelassen hat, braucht, wer ‚Faust’ in Szene setzt, um Aktualisierung und Anverwandlung, so scheint es, nicht Sorge zu tragen: Kein Regisseur weiß solche Askese mit programmatischer Emphase – und Sorgfalt fürs gesprochene Wort – zu verbinden wie Stein. Vor allem deshalb war er berufen, mit ‚Faust’ der Expo Hannover, mochte diese ihm nur „Zirkus“ sein, die künstlerische Signatur aufzuprägen. Mit Stein kommt ‚Faust’ dem Eiffelturm und Atomium nahe – wenngleich nur für deutschsprachige Expo-Besucher, mithin nicht für viele.

 

Zehn Jahre liegen ‚Faust’ und Expo zurück. Peter Stein zieht weiterhin durch die Lande, macht seinem Ruf als hochmögender, rotzig-genialischer Kunstabsolutist Ehre. Alle Jahre sorgen Stein’sche Theaterprojekte für einige Furore. Die Kritik ist zuverlässig gespalten. Nicht minder zuverlässig wütet Stein gegen jenes ‚Regietheater’, das er selber in alten Bremer und Berliner Tagen mitbegründet hatte. Unterdessen ist die Distanz auch der jüngeren Regiekollegen Stein gegenüber gewachsen: Die zentrifugale Bewegung – fort vom Text- und Schauspieler-Theater – hat sich beschleunigt. Dies nicht allein nach alteingebürgerter Volksbühnen-Art, im Sinne der Stückezertrümmerung, des Texts als Material und Werkzeugkiste: Daneben und darüber hinaus hat sich ein neues dokumentarisches Theater etabliert, das Grenzen zwischen Stück und Welt durchlässig macht: Rimini Protokoll ist der bekannteste Fall.

 

Kurzum: Dass einer den Papst gibt, reicht aus. An Reformatoren wird es nicht fehlen.

 

Daniel Krause

 

 

1 Peter Steins ‚Faust’ liegt auf vier DVDs der ‚Theater-Edition’ (ZDF) vor.

 

2 www.focus.de/kultur/medien/theater-faust-als-jedermann_aid_187346.html

 

3 Andres Müry glaubt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Steins Inszenierungsstil und der üppigen Alimentierung zu erkennen: „Wie gewann Stein die Spitzen von Banken und Industrie? Durch das Versprechen der Texttreue: kein willkürliches Regietheater, keine herbeigezwungene Zeitgenossenschaft, keine visionäre Phantasie, kein einziger Strich.“

 

4 „Die ausgebreitete Weltfülle, die sprachliche Pointierung, die strömende Phantasie, das dramatische Ballungsvermögen, der schier überwältigende Facettenreichtum der Figuren und Konstellationen prägen nachhaltig ein, daß wir nicht Nachlaßversteigerer, sondern Beschenkte dieses großen Welttheaters sind.“ Dies die Worte eines großen, alten Germanisten. Zitiert nach: Gerhard Kaiser, Goethe-Jahrbuch 118, 2001, S. 315-321.