23. Juli 2010

Alien in Jerusalem

 

Nur einmal am Abend blitzt sie kurz auf, Matt Rees’ walisische Herkunft. Am Pool-Tisch lässt er es sich nicht nehmen, den Autor dieses Textes im wahrsten Sinne des Wortes abzuziehen. Billard sei eine der wenigen Sportarten, in denen Wales an der Weltspitze mithalten könne, sagt er fast entschuldigend und ergänzt, dass er außerdem als Jugendlicher ständig Billard gespielt habe. Mit Billard scheint es wie mit dem Fahrradfahren zu sein: Was man einmal gelernt hat, vergisst man nicht.

Ansonsten ist Matt Rees seine Herkunft aber nicht mehr anzumerken, vielleicht auch, weil er mit seiner Heimat abgeschlossen hat. Zu Hause hatte er sich dort nie gefühlt, weshalb er mit 22 Jahren nach Amerika, New York, auswanderte. Er wollte alles hinter sich lassen, neu anfangen, einen Rückzugsort finden. Doch in New York erwischte ihn zu seiner eigenen Verwunderung der Kulturschock. „Ich dachte, das kann doch nicht sein, dass ich als Brite in Amerika so was erlebe“, sagte er. Er habe die Welt um ihn herum nicht verstanden, und wenn er Fragen dazu gestellt habe, hätte er komische Blicke geerntet. Eine Erfahrung, die er bereits aus Wales kannte. Wenn er dort jemanden gefragt hatte, warum er sich dauernd betrinke, dann habe er „Man, was stellst du für bescheuerte Fragen? Ich trinke, weil ich Waliser bin“ zur Antwort bekommen, erzählt Rees. Und genauso sei es ihm in Amerika gegangen. Zum zweiten Mal sei er dort auf eine Kultur der Vereinnahmung gestoßen, in der seine Fragen nicht beantwortet wurden, weil man sein Verstehen voraussetzte.

Der Liebe wegen ging er 1996 mit 29 Jahren schließlich nach Israel, Jerusalem. Die Beziehung ging in die Brüche, in Jerusalem blieb Matt Rees dennoch. „Hier konnte ich zum ersten Mal all die Fragen stellen, die mir in den Sinn kamen, ohne seltsam angesehen zu werden. Ich durfte der Fremde sein, als der ich mich fühlte – und ausgerechnet in diesem Fremdsein fand ich ein Zuhause.“

In der nahöstlichen Fremde wurde er Zeuge der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern und begann, als junger Journalist darüber zu schreiben. Schnell stieg er auf und wurde im Jahr 2000 zum Leiter des Jerusalemer „Times“-Büros ernannt. Sein Fremdheitsgefühl war stets die Basis seines journalistischen Erfolgs, denn er begnügte sich in seiner Berichterstattung nicht damit, die klassischen medialen Konfliktbilder zu bedienen, sondern ging den Fragen stets auf den Grund. Dabei sei er allerdings auch an die Grenzen seiner journalistischen Freiheit gestoßen, erzählt er und meint damit nicht die Androhung des ehemaligen Präsidenten der palästinensischen Autonomiegebiete Jassir Arafat, ihn ins Gefängnis zu sperren, sollte er weiter so herumschnüffeln. „Es gibt nur wenige akzeptierte mediale Konstruktionen, um den Nahostkonflikt zu beschreiben, und als Journalist muss man eine dieser Konstruktionen bedienen. Aber nicht immer passt das, was man recherchiert hat, dort hinein“, erklärt der Brite. Wenn man dann etwas anderes schreiben wolle, erhält man ein Kopfschütteln und wird aufgefordert, die Dinge passend zu machen.

Der erste Versuch, diesen vorgefertigten Konstruktionen auszuweichen, war sein 2004 erschienenes Sachbuch „Cain’s field. Faith Fratricide and Fear in the Middle East“ (dt. „Kain’s Land. Glaube, Brudermord und Angst im Nahen Osten“), in dem er die inner- und zwischengesellschaftlichen Spannungen im Nahen Osten beleuchtete. Zwei Jahre nach der Publikation von „Cain’s field“ legte er seinen Büroleiterposten nieder und stieg aus dem Journalistenbusiness aus.

Er begann, einen ersten Roman zu schreiben. 2007 erschien „The Collaborator of Bethlehem“ in Großbritannien und den USA. Packend beschreibt Rees darin den Kampf des Geschichtslehrers Omar Yussuf um einen ehemaligen Schüler, dem der Mord an einem Mitglied der Märtyrer-Brigaden in Bethlehem angehängt werden soll. Yussufs Ermittlung auf eigene Faust und die damit verbundenen Anfeindungen mit den lokalen Märtyrerfürsten und lokalen Eliten ist ein Wettlauf mit der Zeit vor einer höchst realistischen Gegenwartskulisse. Als die deutsche Übersetzung „Der Verräter von Jerusalem“ 2008 erschien, war Matt Rees mit seinem Debütroman längst in die Ehrenhallen der internationalen Krimiliteratur eingezogen. Die Kritiker verglichen ihn mit dem Grandmonsieur des Thrillers John Le Carré, zogen Parallelen zu dem Begründer der hardboiled literature Dashiell Hammet und sahen in Rees einen nächsten Henning Mankell. 2008 wurde sein Erstlingsroman mit dem renommierten britischen Dagger-Award für das beste Debüt ausgezeichnet. Auf dem Höhepunkt des Gazakriegs 2009 erschien in Deutschland sein zweiter Roman „Ein Grab in Gaza“. Die Literaturkritik zog den Roman heran, um zu verstehen, was vor den Augen der internationalen Medienwelt im Nahen Osten passierte. Die Kritiker begannen, von der Yussuf-Reihe zu sprechen und drückten damit ihr Bedürfnis nach Mehr aus.

Dieses Bedürfnis begründet sich in der Tiefe von Rees’ Romanen, die nicht an der Oberfläche der Klischees haften bleiben. Rees steigt mit seinem Antihelden, dem alternden, sich in schlechter körperlicher Verfassung befindenden Geschichtslehrer Omar Yussuf in die Abgründe der innerpalästinensischen Seele. Dabei schreibt Rees weder pro-israelisch noch pro-palästinensisch. Über Omar Yussuf plädiert er vielmehr für einen Weg der Verantwortung. Daher kritisieren in seinen Romanen Palästinenser Palästinenser, allen voran sein Lehrerkommissar Omar Yussuf. Er hält den Palästinensern ihre jahrelangen Verfehlungen vor die Nase und appelliert an ihre Verantwortung für eine bessere Zukunft. Wenn die Palästinenser eines Tages Israel auf Augenhöhe begegnen und eine Friedenslösung finden wollen, dann sei eine erbarmungslose Selbstkritik und das Ziehen der Lehren daraus unumgänglich, erklärt Matt Rees während unseres Gesprächs.

Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, musste Rees erst selbst hinabsteigen, nicht nur in das Chaos des Nahostkonflikts, sondern auch in das Chaos der innerpalästinensischen Zerstrittenheit. Durch genaues Hinsehen und permanentes Hinterfragen durchdrang er die westlichen Klischees. Sein neuer und nunmehr dritter Yussuf-Roman „Der Tote von Nablus“ hat seinen Ausgangspunkt in der Auflösung eines solchen Klischees bei einem seiner ersten Erlebnisse in den palästinensischen Gebieten. In Nablus wohnte er der Beerdigung eines Palästinensers bei und ging zunächst davon aus, dass dieser sicher bei Auseinandersetzungen mit den Israelis umgekommen sei. Stattdessen aber war dieser Palästinenser von einem anderen Palästinenser umgebracht worden – und das vorgefertigte Bild war dahin. Nun nutzte kein Klischee mehr, um sich zu erklären, was hier vor sich gegangen sein muss. Matt Rees nahm dies zum Anlass, sich die Stadt und seine Bevölkerung näher anzusehen. Dabei entdeckte er den antiken Tukan-Palast im Stadtzentrum, der inzwischen zu einem innerstädtischen Slum und Viehmarkt verkommen war, sowie die über der Stadt thronende Samaritaner-Siedlung, von denen heute noch etwa 500 in Nablus leben. In diese Szenerie hat Matt Rees Omar Yussufs dritten Fall gesetzt.

Während der Vorbereitungen der Hochzeitsfeierlichkeiten seines jungen Freundes und Polizeioffiziers Sami Dschaffari verschwindet aus dem Tempel der Samaritaner die angeblich älteste Thora-Rolle der Welt, ein Heiligtum für die winzige samaritanische Gemeinde. Als Dschaffari und Yussuf den Fall untersuchen wollen, stoßen sie auf die massakrierte Leiche des jungen Ishak, Sohn des obersten Priesters der Samaritaner. Hat sein Tod etwas mit dem Verschwinden der Abischa-Rolle zu tun? Oder hängt die grausame Ermordung des jungen Samaritaners vielleicht mit seiner Tätigkeit als Finanzberater „des Alten“ zusammen? Als rechte Hand Jassir Arafats verwaltete und betreute er die internationalen Hilfsgelder für die Palästinensische Autonomiebehörde, von denen mehr als 300 Millionen US-Dollar spurlos verschwunden sind. Es gibt ausreichend religiöse Anführer und Geschäftsmänner, die über den Verbleib des Geldes gern Stillschweigen bewahren würden, aber auch zahlreiche Palästinenser, die die Gelder dringend gebrauchen könnten. Darüber hinaus steht die politische Führung unter Aufklärungsdruck, denn die Weltbank hat angedroht, alle Hilfszahlungen einzustellen, wenn nicht binnen Wochenfrist der Verbleib der 300 Millionen enträtselt und das Geld der palästinensischen Bevölkerung zugeführt wird. Vielleicht hat Ishaks Mord aber auch mit seiner Homosexualität zu tun, die nach wie vor ein Tabu in der palästinensischen Gesellschaft. Viele Fragen, viele Rätsel und wie immer viele, die eine Aufklärung verhindern wollen.

Das Thema der Homosexualität in diesem Roman unterzubringen sei weder Zufall noch von dramaturgischer Notwendigkeit gewesen, erzählt Rees. Vor Jahren habe es ein paar Schwulenbars in den palästinensischen Gebieten gegeben – alle in Nablus. Inzwischen seien sie geschlossen worden. Homosexualität werde unter Palästinensern heute nur noch in schlechten Witzen thematisiert – die übrigens auch alle in Nablus spielen. Das Thema daher in seinem Nablus-Roman einzubinden sei eine bewusste Entscheidung gewesen, um ein weiteres Stück palästinensische Realität zu transportieren. Und natürlich fehlt die konservative Sexualmoral der Islamisten bei diesem Thema nicht. Rees macht en passant in seinem Roman deutlich, wie groß der Einfluss der islamistischen Hamas auf die palästinensischen Köpfe ist. Der Kampf um die Deutungshoheit gipfelt in einem Scharmützel zwischen Hamas und Fatah, bei dem Yussuf und seine geliebte Enkelin Nadia in Lebensgefahr geraten.

Mit der Erzählung um die kleine Samaritanische Gemeinde in Nablus deckt Matt Rees ein weiteres Mysterium des Orients für den westlichen Leser auf. Dabei macht er sich in der ihm eigenen Manier die mystischen Gegebenheiten seiner Schauplätze zu Eigen und steigert die geheimnisvolle Stimmung seiner Romane, wie wir es sonst nur von Fred Vargas’ Adamsberg-Krimis kennen, die sich der dunklen Mythen der europäischen Geschichte bedienen. Und wie schon in seinen bisherigen Yussuf-Krimis ist dem Plot das Geheimnis bis zum Ende nicht zu entlocken – es bleibt im Chaos verborgen.

Allerdings klafft in seinen drei bisherigen Yussuf-Romanen eine unübersehbare Lücke namens Israel. Der jüdische Staat, dessen Politik und die Folgen für die palästinensische Bevölkerung werden kaum thematisiert – und wenn, dann nur am Rande. Daraufhin angesprochen antwortet Rees, dass dies ganz bewusst so sei. Er wollte seine Erzählungen aus dem politischen Konflikt herauslösen und die Aufmerksamkeit des Lesers unvoreingenommen auf die palästinensischen Realitäten lenken. Reaktionen wie „Der ist pro-palästinensisch oder pro-israelisch“ wollte er vermeiden. Man ist geneigt, ihm in der Absicht zuzustimmen, in der Wirkung aber widersprechen zu wollen. Das Ausbleiben der Israel-Kritik könnte man ihm als Israel-Freundlichkeit auslegen. Rees’ kommt dem aber zuvor. Ihm sei klar, dass dies nicht ewig funktionieren würde. In seinem vierten Yussuf-Roman, der englischsprachig bereits unter dem Titel „The fourth Assassin“ vorliegt, verlässt Yussuf daher den Nahen Osten und findet sich „in der berühmten palästinensischen Stadt Brooklyn, New York“ wieder. Hier thematisiert Rees noch stärker als in „Ein Grab in Gaza“ die internationale Dimension des Konflikts. Ein fünfter Roman, der in Jerusalem spielen soll und in dem der Konflikt mit den Israelis erstmals in den Vordergrund treten könnte, sei geplant. Für einen sechsten habe er einen Plot im Kopf. Was er davon aber realisiert, wisse er noch nicht.

Wer die beiden ersten Yussuf-Romane kennt, wird bei der Lektüre von „Der Tote in Nablus“ etwas verwundert sein, denn der neue Krimi ist nicht von der gleichen irrsinnigen Geschwindigkeit geprägt. Dies tut der Spannung aber keinen Abbruch, eröffnete Rees sich doch die Möglichkeit, die Protagonisten und ihre metaphorischen Funktionen intensiver auszugestalten. Sehr viel deutlicher als in den bisherigen Yussuf-Krimis wird deren Rolle, die palästinensische Gesellschaft zu repräsentieren. Seine Enkelin Nadia als die Hoffnung auf eine bessere palästinensische Zukunft, Yussufs Ehefrau Marjam als die Konstanz und Sicherheit der arabischen Traditionen, sein Freund, Polizeioffizier und ehemaliger PLO-Terrorist Chamis Sejdan als Repräsentant der verworrenen und dramatischen palästinensischen Geschichte oder die religiösen Eiferer, die von Roman zu Roman wechseln und die Fatalität der Religion im Nahen Osten spiegeln. Sie alle geben in ihren eigenen Geschichten den Omar-Yussuf-Krimis den Tiefgang, der uns die palästinensische Gesellschaft fern der Klischees in ihrer inneren Zerrissenheit näher bringt und Ansätze zum Verstehen liefert. Sie beantworten uns die Fragen, die wir nicht stellen.

Matt Rees hat seine Heimat nicht im Ort Jerusalem gefunden, sondern in der Akzeptanz seines Fremdheitsgefühls. Dieses Gefühl hält er aufrecht, indem er weiter die Dinge hinterfragt, die er beobachtet.

 

Thomas Hummitzsch

 

Der Autor traf Matt Beynon Rees im Rahmen der Leipziger Buchmesse und moderierte eine Lesung mit dem „Alien“ in Jerusalem.

 

Matt Beynon Rees: Der Tote von Nablus. Omar Yussufs dritter Fall. Aus dem Englischen von Klaus Modick. Verlag C.H. Beck. München 2010. 335 S. 18,95 Euro. ISBN: 3406598390

 

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