14. Juli 2010

Die Balkonkrise

 

Stau in der Innenstadt, drei Tote bei einer Schießerei, Zugunglück, ein Ende der Hitze ist nicht abzusehen, dreh das Radio leiser, sagt Jan, er macht einen Buckel, kichert, fühlt sich wie der Glöckner von Notre Dame, reicht Marion die Sonnenmilch, die nimmt sie, dreht die Flasche auf den Kopf, schlägt sie durch die Luft nach unten, immer und immer wieder, nichts mehr drin, sagt sie, quatsch, antwortet Jan, setzt sich wieder aufrecht hin, greift sich die Flasche, pumpt, nichts zu machen, da kommt nur Luft, sagt er, sie lachen, weil sich die entweichende Luft nach Fürzen anhört, so hörst du dich an, wenn du im Bett liegst, lacht Marion, einfach nur widerlich, wir spielen jetzt einen Song von Jimi, natürlich Jimi Hendrix, Marion beugt sich zum Radio, nein, ruft Jan, Hendrix ist cool, lass den laufen, den will ich hören, Marion zieht die Schultern hoch, einmal so, dann wieder so, du musst dich mal entscheiden, sie legt sich auf das Handtuch, schließt die Augen, Mann, sagt sie, so könnte das Wetter ruhig bleiben, ja, sagt Jan, der sich den Schweiß von der Stirn wischt, sie sagen nichts mehr, hören Hendrix und seiner Gitarre zu, plötzlich unterbricht die Stimme des Radiomoderators die Rückkoppelungsorgie, wie wir eben erfahren haben, hat es am Frankfurter Hauptbahnhof eine Explosion gegeben, die Polizei geht von einem Bombenattentat aus, die Zahl der Opfer ist noch unbekannt, wir informieren Sie, sobald wir weitere Einzelheiten kennen, Jan schlägt die Augen zeitgleich mit Marion auf, sie sehen sich an, rennen ins Wohnzimmer, schalten den Fernseher ein, suchen die Sender durch, überall laufen Nachrichtenbänder, die von dem Unglück berichten, Jan schaut Marion ungläubig an, was soll der Scheiß, sagt er, da ist hier mal was los und die können nicht mal eine Sondersendung mit Bildern bringen, Jan, ruft Marion, wieso, ich habe doch recht, sie gehen wieder auf den Balkon, starren in Richtung Bahnhof, siehst du was, fragt Marion, das könnte eine Rauchsäule sein, sagt Jan, ich weiß nicht, sagt Marion, außerdem hätten wir die Explosion doch hören müssen, alte Miesmacherin, erwidert Jan, wir schalten jetzt zu unserem Kollegen Walter Sorgenthal, der sich vor Ort befindet, Walter, kann man denn schon sagen, wie schlimm es ist, was für eine blöde Frage, schreit Jan auf das Radio ein, so eine dämliche bescheuerte Frage, die Polizei hat das Gebiet weiträumig abgeriegelt, es liegen uns noch keine verlässlichen Zahlen vor, aber da der Frankfurter Hauptbahnhof täglich von, Jan schaltet das Radio aus, ich kann mir das Gelaber nicht länger anhören, wir fahren hin, sagt er zu Marion, die nickt nur, so ein herrlicher Tag, flüstert Marion, stell dir mal vor, wir wären dort gewesen, waren wir aber nicht, sagt Jan, rennt ins Schlafzimmer, schlüpft in seine Jeans, zieht sich ein T-Shirt über, dann ist er schon im Treppenhaus, warte doch auf mich, ruft Marion, beeil dich, sagt er, wir müssen uns beeilen, bei dem Schneckentempo kriegen wir nicht mal mehr ne Leiche zu sehen, Marion ist bereits hinter ihm, auf dem Rückweg können wir uns eine Sonnenmilch bei Schlecker mitnehmen, scheiß auf die Sonnenmilch, Jan nimmt immer zwei Stufen auf einmal, Marion keucht hinter her, das sagst du jetzt, aber wenn du dir dann den Rücken verbrannt hast, darf ich dich wieder pflegen, Jan bleibt kurz stehen, sieht sie scharf an, denk an die ganzen Toten, du solltest froh sein, nur einen Sonnenbrand verarzten zu müssen, ist ja gut, sagt Marion, Jan hat die Tür erreicht, er reißt sie auf, durchwühlt seine Taschen, verfluchte Scheiße, brüllt er, was denn, ich habe den Autoschlüssel oben liegen lassen, verflucht, verflucht, da passierte einmal in meinem Leben ein solches Ding, und ich, er spricht nicht weiter, rennt ins Haus zurück nach oben, Marion wartet, sie sieht zum Himmel, schattet ihre Augen ab, sie schwitzt, sie will auf den Balkon zurück, sie will dort liegen und die Sonne genießen, geht aber nicht, weil Jan ja unbedingt dort hin muss, Männer, denkt sie, da hört sie oben einen Schlag, gleichzeitig einen Schrei, Jan, sie rennt die Treppen nach oben, da liegt er, das Bein seltsam verdreht, Scheiße, keucht er, ruf den Krankenwagen, ich hab mir bestimmt das Bein gebrochen, Marion nickt nur, steigt vorsichtig über ihn, rennt nach oben, greift nach dem Telefonhörer, wählt die Notfallnummer, sie gibt Namen und Anschrift durch, blickt dabei durch die offene Wohnzimmertür zum Balkon, wären sie doch nur liegen geblieben, der am anderen Ende erklärt ihr, dass momentan alle Krankenwagen im Einsatz seien, ob sie ihn nicht selbst bringen könnte, ja, wie denn, ruft sie, ich packe ihn doch überhaupt nicht, dann fragen Sie doch mal Ihre Nachbarn, das ist eine Superidee, denkt Marion, vor allem, weil sie die kaum kennt, sie beendet das Gespräch, lehnt sich nach hinten an die Wand, schließt die Augen, stellt sich die Sonne vor, nur einen kurzen Augenblick, dann rennt sie runter zu Jan, der ist schon ganz blass, Mensch, Marion, stöhnt er, wir verpassen da den wichtigsten Moment in unserem Leben, nein, nein, sagt sie, da gibt es wichtigere Dinge, ich muss jetzt erst mal Hilfe holen, bin gleich wieder da, schon gut, sagt Jan und beißt die Zähne zusammen, er versucht sich abzulenken, stellt sich vor, er wäre das Opfer eines Terroranschlags, er wäre einer der wenigen, die überlebt hätten, natürlich würde er so aussehen wie Arnold Schwarzenegger, er würde die Toten rächen, alle, der Gedanke gefällt ihm, und als Marion schließlich mit diesem Jörg aus dem ersten Stock auftaucht, da hat er mit seinem gebrochenen Bein bereits Frieden geschlossen, er fühlt sich gut, stark, du Marion, sagt er, das war ein cooler Tag, echt cool, Marion sieht ihn entsetzt an, er muss einen Schock haben, denkt sie, oder einen Sonnenstich, sie muss unbedingt Sonnenmilch kaufen, denn so einen Tag verkraftet sie nicht noch einmal.

 

Guido Rohm