9. Juli 2010

„A people person“

 

Der Titel von Daniel Clowes’ jüngster Graphic Novel lässt unwillkürlich an Robert Zemeckis Film „Cast Away“ (2000) denken, in dem Tom Hanks als der Logistikexperte Chuck Noland auf einer einsamen Insel strandet und dort mehrere Jahre fristen muss. Zufällig wird ein Volleyball angespült; der moderne Robinson tauft den Ball auf seinen Herstellernamen – „Wilson“ wird ihm zum einzigen Freund, Begleiter und Vertrauten auf der Insel. Die Namensgleichheit mag Zufall sein, doch um Isolation geht es auch Clowes in dem kürzlich erschienenen Comic, dessen Protagonist ein wenig liebenswürdiger Zeitgenosse gleichen Namens ist. Wir lernen Wilson in mittleren Jahren kennen, seine Haarlinie hat sich schon etwas zurückgezogen, er ist leicht untersetzt und trägt eine Brille. Er begrüßt den Leser mit den Worten „I love people! I’m a people person“, um wenige Panel später vorzuführen, dass er ignorant, selbstsüchtig und von der oberflächlichen und besonders langweiligen Art von Bitterkeit geprägt ist, die aus einer Mischung von persönlichem Versagen und Selbstmitleid entsteht und die über die Jahre verknöchert zu einer grundsätzlicher Abneigung gegenüber allem Unvertrauten, das möglicherweise die Begrenztheit des eigenen Horizonts aufzeigen könnte. Einsamkeit ist zugleich Grund und Strafe für diese Bitterkeit und seine Gehässigkeit gegenüber den wenigen Mitmenschen, denen er zufällig im Café oder beim Gassigehen mit seinem Hund begegnet.

Sein Vater, ein emeritierter Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft, ist der letzte lebende Verwandte, sein Tod nach dem ersten Drittel der Geschichte führt dem 43-Jährigen seine soziale Isolation deutlich vor Augen. Er macht sich auf die Suche nach seiner Exfrau Pippi. Sie hat es nach ihrer Trennung noch schlechter getroffen als er, wovon wir nur Einzelheiten erfahren. Offenbar ist sie ins Milieu abgerutscht, doch bei ihrem zufälligen Treffen – nicht einmal bei der Suche nach ihr ist er wirklich erfolgreich – arbeitet sie in einem Diner, hat ihre Krise scheinbar in den Griff bekommen, was sogar Wilson anerkennen muss. Die beiden kommen wieder zusammen, und Pippi eröffnet ihm, dass sie eine gemeinsame 16-jährige Tochter haben. Der frischgebackene Vater lässt sie von einem Detektiv ausfindig machen, und es kommt zu einer Familienzusammenführung. Zusammen macht die Kleinfamilie einen Ausflug zu Pippis Schwester. Wilson ist auch bei diesem Treffen unausstehlich, doch für einen kurzen Moment scheint er in einen größeren Zusammenhang eingebettet zu sein. Doch es bleibt bei dem Moment. Seine Exfrau zeigt ihn wegen Kindesentführung an, und er landet im Gefängnis. Das Ende der Geschichte muss hier nicht vorweggenommen werden, denn es ist weniger die Geschichte selbst als die Art, wie Clowes sie erzählt, die an diesem Comic interessiert.

„Wilson“ ist in 70 Episoden zerlegt, die jeweils eine Seite umfassen und selten mehr als wenige Minuten zum Inhalt haben. Sie sind mit lakonischen Titeln wie „Grandfather“, „Haircut“ oder „Empty Pool“ bezeichnet. In 15 der Einseiter ist Wilson völlig allein und spricht mit sich oder dem Leser, in 20 weiteren begegnet er Fremden, denen er meist auf seine misanthropisch-ungeschickte Art vor den Kopf stößt. Es bleibt etwa die Hälfte der Strips, in denen er es mit Personen zu tun bekommt, die er etwas länger kennt – darunter zum Beispiel seine Exfrau, sein im Sterben liegender Vater, der nicht auf ihn reagiert und Shelley, mit der ihn eine Zweckbeziehung verbindet.

Der Comic ist von einer vielschichtigen strukturellen Widersprüchlichkeit geprägt. Gleich auf doppelte Weise widersprüchlich ist die Erzählweise. In gewisser Weise setzt Clowes einen Kontrapunkt zu den in den letzten Jahren populär gewordenen Genres Biografie und Autobiografie. Gemeinsam ist beiden Genres, dass sie verbürgte Fakten über eine historische Person vermitteln wollen. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls, dass es in ihnen (meistens) um Einheitlichkeit geht: Widersprüchliches, Unvereinbares, (moralisch) Schönes wie Hässliches wird von der Erzählposition aus homogenisiert, Fragmentarisches zu einem vollständigen Ganzen verbunden. Auch solche Biografen und Selberlebensbeschreiber, die ein gewisses Maß von Lückenhaftigkeit eingestehen, werden sich doch bemühen, das Leben möglichst erschöpfend zu beschreiben und Lücken bestmöglich zu füllen. Denn selbst von den fleißigsten Tagebuchschreibern oder von Vertretern der Massenmedien am dichtesten verfolgten 'Stars' wissen wir ja bei Weitem nicht alles, was in ihrem Leben vorgegangen ist. Bei vielen ist es ja gerade die verlockende Leerstelle, die ihre Faszination ausmacht. Weder bei den Details noch bei zentralen Ereignissen können wir von einer versicherten Vollständigkeit ausgehen. Zudem sind die Fakten, die wir zu haben glauben, vielfältigen Medialisierungs- und Fiktionalisierungsprozessen unterworfen, die jeden vermeintlich 'wahren' Kern überlagern. Nun ist "Wilson" selbstverständlich weder eine biografische noch eine autobiografische Schrift (wenn auch manche Elemente von der Autorbiografie inspiriert sein mögen). Aber es geht auch hier um eine einzelne Person, deren Leben geschildert wird, und die Strategien, die üblicherweise dazu dienen, werden von Clowes pervertiert.

Wo die Autobiografie die Ich-Form wählt, um einen kontinuierlichen Erzählstrom zu fokussieren und in die Nähe des lesenden Subjekts zu bringen, bedient sich die Biografie des distanzierteren ‚Er‘, das die beschriebene Person objektiviert. Im Comic verhält es sich etwas anders. Comics dieser Genres zeichnen sich zusätzlich zu dem Inhaltlichen zwischen Fakt und Fiktion durch einen strukturellen Widerspruch aus: Im Text tritt ein homodiegetischer Erzähler auf, der sich selbst, in Sprechblasen und captions als Ich bezeichnet und uns Innenansichten seiner Gedanken und Gefühle liefert, der aber im Bild in der Außenansicht gezeigt wird. Eine solche Erzählerfigur bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen der Nähe zum lesenden Leser einerseits und der Distanz zum schauenden Leser andererseits. Oder, wie es Clowes’ parodistische Figur „Harry Naybors, Comic Book Critic“, formuliert:

 

"[…] perhaps in that schism lies the underpinning of what gives 'comics' its endurance as a vital form: while prose tends toward pure 'interiority', coming to life in the reader's mind, and cinema gravitates toward the 'exteriority' of experiential spectacle, perhaps 'comics' in its embrace of both the interiority of the written word and the physicality of image, more closely replicates the true nature of human consciousness and the struggle between private self-definition and corporreal 'reality'" (Daniel Clowes: Ice Haven. A Narraglyphic Picto-Assemblage. London: Jonathan Cape 2005, S. 4)

 

Spannungen baut Clowes auch stilistisch auf. Die Beliebtheit vieler Comiczeichner hängt zum großen Teil mit den von ihnen gepflegten Zeichenstilen zusammen, die ihre Arbeiten identifizierbar machen und nicht selten so etwas wie Werkkohärenz stiften. Clowes unterläuft dieses Prinzip, indem er die 70 Einseiter in unterschiedlichen Stilen anlegt. Da gibt es Naturalistisches neben stark Abstrahiertem neben Karikaturistischem mit Knollennasen, einige Seiten bewegen sich in der Nähe der ligne claire, andere greifen stimmungsvolle monochrome Darstellungsweisen auf, wie sie Clowes in „Ghost World“ verwendet hat. Dabei geht es ihm offenkundig nicht darum, möglichst viel Unterschiedliches vorzuführen, also ein „inventory of effects“ zusammenzustellen, wie etwa Matt Madden in seinen oulipistischen „99 Ways to Tell a Story“ (2005). Die Stile der Einzelseiten korrespondieren nicht mit dem jeweiligen Inhalt – zumindest lässt sich keine stichhaltig Beziehung konstruieren –, sie generieren vielmehr eine je einzigartige Stimmung im Wechselspiel mit dem Inhalt. Hatte Clowes in „Ice Haven“ (2005) noch jeder Geschichte einen eigenen Stil zugewiesen, sodass in sich geschlossene Einheiten nebeneinander stehen, nutzt er nun die stilistische Polyphonie, um eine zusammenhängende Einheit zu fragmentarisieren. Die Zahl der Stile bleibt begrenzt auf eine Handvoll, vielleicht etwas mehr, je nachdem wie stark man differenzieren möchte, und sie bedienen sich der gleichen Mittel: Alle verwenden Umrisszeichnungen, alle arbeiten mehr oder weniger stark mit mal expressiver mal naturalistischer Farbgebung. Einige Episoden sind monochromatisch, aber keine ist schwarz-weiß, keine ist als Photocomic umgesetzt, Ölfarbe, Aquarell oder experimentelle Techniken kommen nicht zum Einsatz. So bleibt trotz der Vielstimmigkeit eine grundsätzliche Einheitlichkeit und damit auch eine Einheit der Teile gewahrt. Harmonisierend wirkt auch das Panellayout, das nur wenig Variation erfährt.

Widersprüchlich ist auch die äußere Erscheinung. Das Buch ist eingebunden in einen laminierten Pappeinband, dessen Buchdeckel mehrere Millimeter stark ist, zusammen beinah so dick wie der Buchblock, was dem Buch die Haptik und das Aussehen eines robusten Bilderbuchs verleiht, das auch die wiederholte Lektüre unvorsichtiger Kinderhände übersteht – in ähnlicher Form, aber bei kleinerem Format hatte Clowes bereits „Ice Haven“ gestaltet. Auch inhaltlich korrespondiert der Comic mit Kinderbüchern, könnte dabei aber zugleich kaum weiter von ihnen entfernt sein, denn zwar ist das Hauptthema dem von Bilderbüchern gar nicht unähnlich – zwischenmenschliche Beziehungen vorgeführt an alltäglichen Situationen –, doch lösen sich Wilsons Schwierigkeiten nicht in Wohlgefallen auf.

Der Fokus der Erzählung wird auf dem Titelbild eindeutig bezeichnet. Es zeigt – außer dem Titel, der ebenso unzweideutig ist – im Mittelpunkt eine recht naturalistische Zeichnung des Protagonisten mit überproportioniertem Kopf und lenkt dadurch – in bester Comic-Tradition – die Aufmerksamkeit auf das Mienenspiel der Figur. Das Bild fordert den Leser heraus: Wer ist dieser Mann und wieso schaut er so unglücklich aus dem Bild heraus? Der Leser ist der Einzige, der seiner Lebensgeschichte dauerhaft folgt, denn zu anderen unterhält Wilson keine längergehende Beziehungen. Es tauchen zwar einige Figuren in seinem Leben auf, doch die meisten nur momenthaft im Rahmen eines der einseitigen Fragmente, um gleich wieder zu verschwinden. Wilson weiß das und er richtet seine ersten Worte entsprechend direkt an den Leser; denn es ist der Leser, dem gegenüber er sich präsentiert. In fast keinem Panel der folgenden Geschichten steht Wilson nicht mehr oder weniger im Mittelpunkt. Die einzige Ausnahme bildet der 35. Abschnitt, genau in der Mitte der 70 Einseiter. In ihm wird die erste Begegnung zwischen Wilson und seiner Tochter geschildert. Wilson tritt erst im letzten Panel auf, in dem er einen Jugendlichen bedroht, der seine Tochter erfolglos umwirbt und dann beleidigt. Er führt sich damit gleichzeitig unabsichtlich und auf für beide Seiten peinliche Weise bei seiner Tochter ein, die das Geschehen aus mittlerer Entfernung beobachtet, indirekt vorstellt. Die Szene birgt den höchsten Punkt des Spannungsbogens – nicht zuletzt, weil Wilson nach dem kurzen Fokalisationswechsel umso deutlicher in den Fokus des Lesers zurückkehrt und der Auftritt vor seiner Tochter dadurch umso dramatischer wirkt. Den eigentlichen Höhepunkt spart Clowes aber aus. Wir lesen nicht, wie Vater und Tochter die ersten Worte wechseln. Genauso wenig erfahren wir, wie Wilsons Vater stirbt und wie Pippi und Wilson nach langer Trennung die erste gemeinsame Nacht verbringen. Clowes konstruiert die Geschichte vielmehr um die Höhepunkte herum. Man mag dabei an Lessings „fruchtbare Momente“ denken: Lessing befasst sich mit dem Moment einer eingefrorenen Handlung, in dem der Höhepunkt erahnt werden kann, ohne dass er dargestellt ist. In „Wilson“ sind es Lücken in der Handlung, welche die Aufmerksamkeit auf das Ungesagte bzw. Ungezeigte lenken. Gerade dadurch und durch die strukturellen Widersprüche zwischen stilistischer Einheit und Fragmentarizität, zwischen fröhlicher Kinderbuchform und fatalistischem Inhalt und zwischen Ich-Erzähler und gezeigtem Er, öffnet Clowes einen Imaginationsraum, in dem der Leser Wilson selbst zum Leben erweckt.

 

Christian A. Bachmann

 

 

Daniel Clowes: Wilson. Montréal, Québec: Drawn and Quaterly 2010 / London: Jonathan Cape 2010

 

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