12. November 2003

Geometrie des Schreckens

 

Was am Anfang getrennt ist, kommt am Ende zusammen. Hoch oben auf den Bergen über Grenoble feiern die beiden Kommissare ein Happyend. Nicht nur, dass sie ihre jeweiligen Fälle gelöst hätten, es war letztlich nur ein einziger. Und doch liefen kurz vorher, vor dem Showdown, noch vier Personen über die Skipiste. Die umgekehrte Übung bekommt also auch ihr Recht, aus einer Einheit wird eine Zweiheit als Zwilling. Legt man diese beiden geometrischen Figuren (Dreiecke) übereinander, so bekommt man in der Mitte ein Zentrum. Im Zentrum des Plots des Films steht der Tausch. Im Zentrum des Films dagegen eher Unordnung. Da hilft es auch nicht, dass der ältere der Ermittler, Niémans (Jean Reno), immer so gelassen ist, manchmal auch so dummschlau.

Aber es geht ja von einem Spektakel zum nächsten, da gibt es keine Atempause, jede Szene ein neuer Ort, darüber hinaus parallele Ermittlungen zunächst getrennt scheinender Fälle, totgefahrene Schulmädchen und handamputierte Leichen mit Glaskugelaugen, Grabesschändungen auf Friedhöfen, überall herumjoggende Studentengenies, eine irre Mutter im ewigen Untertagebau eines Nonnenklosters, Polizisten, die nicht so genau zwischen privat und dienstlich unterscheiden können und ständig väterliche Fürsorge und Informationspflicht einklagen, Louis-de-Funès-Dorfpolizist-Trottel, die erst gar nicht in die Ermittlungen einbezogen werden (das würde empfindlich die geometrische Doppelfigur beeinträchtigen), und nicht zuletzt eine völlig wahnsinnige nationalsozialistische Berguniversität, die empfindlich an ihrer sackgassenhaften Reproduktionsmethode leidet und es doch nicht lassen kann, gefährliche Liebschaften im gefängnishaften Spiegelsaal des Lesesaals massenhaft entstehen zu lassen.

Es ist also einiges los in diesen eisigen Regionen. Dann kommen über logischerweise sich einstellende Assoziationen auch noch andere Filme ins Spiel, so etwa „Das Schweigen der Lämmer“ in der Kreuzigungsszene und „Sieben“ wegen der Schnitzeljagdmethode. Hin und wieder fragt man sich, ob die Methode des Spurenlegens der Wahnsinn ist, aber das ist nur eine Zusatzirritation, die sich mit den anderen gut verträgt. Es gibt noch ein anderes Zentrum des Films, und das ist da, wo der Tausch sich auch bei den beiden Polizisten bemerkbar macht, indem sie sich gegenseitig mit Informationen austauschen. Von da an geht es aufwärts mit der Suche, an Spannung, aber auch an realen Höhenmetern. Eine der vielen brachialen Untersuchungsmethoden – die zweite Grabschändung – bestätigt den Verdacht von Niémans, dass den Fall nur lösen kann, der ihn auslöste und durch die Morde überhaupt erst publikumswirksam zum Fall machte, die Studentin, die den ersten Toten fand. Wenn alles beim alten geblieben wäre, hätte sie gar nicht studieren müssen, was ja hier eher ein Fluch ist als ein aufklärerischer Segen, sondern hätte mit ihrer (Zwillings)Schwester die Alm bestellt. Das Schicksal wollte es anders, aber da es menschlich gepfuscht hat und es auch ein paar Verantwortliche gibt, können sich die Schwestern immerhin rächen, genauer gesagt die dunkle Hälfte dieses entwendeten Paars. Aber erst, wenn auch dieser Spiegel zerbrochen ist, kann das Ende gut werden, in Form eines ungleichseitigen Dreiecks.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Mathieu Kassovitz, Die purpurnen Flüsse, Frankreich 2000</typohead>