27. Juni 2010

Peter Wawerzinek gewinnt

 

Auszug aus dem Siegertext

 

Peter Wawerzinek

 

Ich finde dich/Rabenliebe

 

Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten als mir lieb ist.

 

SCHNEE IST DAS ERSTE, woran ich mich erinnere. Verschneiet liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht, und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume. Es schneit sanft in den Ort hinein. Danach gewinnt der Schneefall an Stärke. Es ist so oft Winter in meinem Kopf. Es schneit so häufig, dass ich denke, in meinen Kinderheimjahren hat es nur Schnee, Winter und Eiseskälte gegeben. Ich sehe mich eingemummelt. Frost und Rotz klebt an der Nase. Ich bin das ewige Winterkind unter Winterkindern beim täglichen Schneemannbauen. Es ist November. Ich sitze in einem großräumigen Automobil, einer schwarzen Limousine. Ich bin vier Jahre jung und in dem riesigen Automobil. Schneeweiß ist die Landschaft, die ich in Erinnerung habe. Der Fahrer ist ein dunkler Schattenriss. Ein mit Schneefall versehener Tag ist der Tag, den ich als ersten Tag meines Lebens erinnere. Ein tiefgrauer Tag, der morgens rötlich aufzieht und schön zu werden scheint. Ein verdunkelter, mit Wolken bedeckter Tag, der sich hinter einer Wolkendecke verkriecht, sich den Tag über als Tag nicht sehen lassen mag, dem Schnee das Terrain überlässt, der aus diesem grauen Himmel wie aus einer alten Pferdedecke geklopfter Staub umherwirbelt. Wie der Hase bei seinem Lauf über den Acker den Igeln nicht davonlaufen kann, ruft der Schnee mir zu: bin schon da. Ach bittrer Winter, wie bist du kalt, hast entlaubet den grünen Wald, hast verblüht die Blümlein, die bunten Blümlein sind worden fahl, entflogen ist uns die Nachtigall, entflogen, wird je sie wieder singen.

 

In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung.

 

ICH BEFINDE MICH auf dem Weg zu einem Kinderheim. Ich habe keine Ahnung, wohin es mit mir geht, weiß nicht, was mich am Ende der Fahrt erwartet. Ich sitze in einer Limousine. Frühe herrscht. Nebel steht in der Landschaft. Im Nebel wird der ruhende Ackerstein durchsichtig. Im Nebel erscheinen all die Dinge in der Natur wie in eine Kristallschale hineingelegt. Im Nebel wird das Leichte gewichtiger als ein Planet an Masse in die weltliche Waagschale wirft. Das Unscheinbare ist erst in all seiner nebulösen Unklarheit innig zu erleben. Der an einem gewöhnlichen Tag ignorierte, große, stumme, unscheinbar am Wegrand schlafende Ackerstein, seht doch genauer hin, er tritt wacher aus dem Nebel hervor, gewinnt an Würde. Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt, im kalten Golde fließen. Leben ist Nebel und Nebel ist Leben. Rückwärts wie vorwärts gelesen mögen die zwei Worte Nebeleben und Lebenebel in Gold gefasst auf meinem Grabstein stehen. Nebel weiß ich um mich, der es gut mit mir meint.

 

weiter: bachmannpreis.eu/de/texte/2633

 

 

 

Die weiteren Preisträger

 

Dorothee Elmiger ist die Gewinnerin des Kelag-Preises. Den 3sat-Preis nimmt Judith Zander mit nach Hause. Aleks Scholz wird mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet.

 

Auch beim 3sat-Preis gab es ein Stechen - diesmal zwischen Aleks Scholz und Judith Zander, das Letzere für sich entschied. Der Preis ist mit 7.500 Euro dotiert.

 

Der mit 7.000 Euro dotierte Ernst-Willner-Preis geht nach einer Stichwahl zwischen Aleks Scholz und Sabrina Janesch an Aleks Scholz.

 

Der mit 7.000 Euro dotierte Publikumspreis geht an Peter Wawerzinek. Der Preis wurde per Internet-Abstimmung ermittelt.