19. Juni 2010

Mehring – und noch Toller

 

Über die Entweiblichung der modernen Frau der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts ist schon viel spekuliert worden, kurze Haare, breite Schultern, keine Taille, „Busenflucht“ und überhaupt: selbstbewusstes Auftreten. Klaus Theweleit stellte seinerzeit die erstaunliche These in den Raum, nach der dieser Frauentypus es dem Mann leichter machte, die Homosexualität, die er sich im Weltkrieg zugezogen hatte, abgestuft wieder verlassen zu können, ohne dass der Schock „Frau“ zu groß würde.

 

Man kann sich dem Thema aber auch ganz direkt zuwenden, wie das etwa der Zeichner und Karikaturist Karl Arnold mit seinen Illustrationen vor allem für die damals sehr bekannte Zeitschrift Simplicissimus getan hat. Der 1883 geborene Arnold, der in München u.a. bei Franz Stuck studiert hatte und durch eine Initiativbewerbung in den erlauchten Kreis der Simplicissimus-Zeichner aufgenommen wurde, hielt sich seit 1919 immer wieder für längere Zeit in Berlin auf, um am Puls der Zeit zu sein. Ein gefundenes Fressen, um die neue Geschlechterunordnung zu studieren. Aber ob er die folgende Situation wirklich so sah, wie er sie dann grafisch umsetzte? Eine (junge?) Frau mit Bubikopf, die rechte Hand in der Jackentasche, in der linken Hand eine Zigarette haltend, mit Hosenrock und Schlips, steht vor zwei identisch aussehenden Türen, die sich nur durch ihre Beschriftung unterscheiden: „Für Damen“ und „Für Männer“. Die Frau, die schleunigst, wie man meinen könnte, in der ihr zunächst situierten Tür („Damen“) verschwinden können sollte, scheint zu zögern und nicht recht zu wissen, wo denn nun ihr Platz sei.

 

Karl Arnold hat der Illustration den Titel gegeben: Lotte am Scheidewege (1925). Mit dieser doppelt zutreffenden, zugleich äußerst dezenten Formulierung weist sich der Zeichner Arnold auch als ein sehr gewitzter Texter seiner eigenen Bilder aus. Viele der Titelblätter oder im Blatt gezeigten Bilder tragen Text, Kommentare, die nicht selten gar keiner der gezeigten Figuren direkt zuzuordnen sind. Das ist ein ganz ausgezeichneter Kunstgriff, denn die Stimme, die da spricht, scheint weder im Bilde zu sein noch dem Zeichner Arnold zu gehören. Eine seltsame Externalität macht sich bemerkbar und man ist versucht, an einen anderen Zeitgenossen Arnolds zu denken, nämlich Ödon von Horvath, dessen Figuren auf eine Art reden, die man als eine generalisierte Sprechhaftung bezeichnen könnte. Das Schöne an Arnold: Er hat keinen falschen Respekt vor gar nichts. Ob neueste Mode oder neueste Kunst, alles wird durch den Kakao gezogen, was nur Attrappe ist, oder als Möbelstück auch schon den anderen Geist signalisieren soll wie perfekt ausgestatte Bauhaus-Wohneinheiten die aphoristisch geformte Knappheit der Rede.

 

Und vielleicht hat er ja wirklich eine Führung Ludwig Justis durchs 1919 eröffnete Kronprinzenpalais mitgemacht, in der dem Besucher der Respekt auch vor moderner (in diesem Fall expressionistischer) Kunst in Form von „Kunstpredigten“ aufgenötigt wurde. Also sprach der Führer: „,Die Umschichtung sinnlich wahrgenommener Außenwelt beschwingt den Druckgestus des Pinsels zum Ausdruck des Geschauten, bringt Gestaltung phosphoreszierender Kurven und Reflexe zur Form an sich.“’ Arnolds Zeichnungen – und dieser Zug ist durchgehend – lebt ausschließlich von der bloßen Umrisslinie. Das Erstaunliche ist, dass die Gesichter und Figuren dadurch kein bisschen typisiert wirken, auch wenn hinter dem token immer noch der type erkennbar ist. Insgesamt ist Arnold zahmer als sein Zeitgenosse George Grosz, er ist eher witzig als brutal. Von den ca. 250 Arbeiten, die sich im Besitz der Berlinischen Galerie befinden, sind jetzt gut 100 ebendort zu besichtigen. Zu der Ausstellung ist ein instruktiver Katalog erschienen.

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Karl Arnold. „Hoppla, wir leben!“. Berliner Bilder aus den 1920er-Jahren, Ostfildern 2010 (Hatje Cantz Verlag und Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur)