16. Juni 2010

Anti bis zum Schluss

 

Bevor die Künstler und Schriftsteller wieder lange Finger machten in Richtung Vergangenheit, um die Leere zu füllen, in der sie sich vorfanden, wurde in den 1960er Jahren, vergleichbar vielleicht nur mit den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts, zertrümmert, was zertrümmert werden konnte. Leinwände wurden durchstochen und angekokelt, seltsame Materien wie Fett in Galerien abgelegt, Texte auf Unlesbarkeit und Unverständlichkeit hin produziert, Autoren symbolisch getötet und Filme gedreht, darauf angelegt, den Zuschauer zu enragieren. Mittendrin, der 1923 in Zagreb geborene und 2004 in München gestorbene Anti-Künstler Vlado Kristl. Ein Tod dem Zuschauer genannter Film des Jugoslawen stammt zwar erst aus dem Jahr 1984, aber Programm war dieses Motto schon immer bei diesem Sinnverweigerer, dessen Filmografie im Jahr 1959 beginnt und bis in sein Todesjahr reicht. Bekannt geworden ist er in diesen knapp 50 Jahren nicht. War auch nicht Absicht. Ein paar Preise hat er zwar eingeheimst, aber meist für Drehbücher, um an Geld für Filme zu kommen, die mit dem Drehbuch dann nicht mehr viel zu tun hatten. Auch Totalverweigerer sind Taktiker, wenn es darauf ankommt.

 

Dem Kritiker Franz Everschor fielen folgende Eigenschaften Kristlscher Filme auf, alle natürlich negativ konnotiert: „unartikuliert, Hackwerk, blutleer, verkorkst“. Sein Verfahren: „Kristl erzählt nämlich keine Geschichte. Sein Rohfilmmaterial könnte wohl eine Geschichte hergeben, wäre es im herkömmlichen Sinne geschnitten; aber Kristl hat es zerhackt, in Fetzen und Bruchstücke zerlegt, mit akustischen Fremdkörpern unterbaut, auf jede Entwicklung verzichtend.“ Erstaunlich, dass man so etwas ein halbes Jahrhundert durchhalten kann. Aber die Gesellschaft hat halt nicht reagiert. Und so musste Kristl weitermachen, gegen den Rest der Welt. So gesehen passen die beiden sehr gut zueinander. Eine Art logische Kontradiktion. Aber natürlich schlechte Nachrichten für Dialektiker. Weil nichts wirklich passiert. Er ist der Clown, den man ab und an braucht, um über sich zu lachen. Danach kann’s weitergehen wie gehabt.

 

In den 60er Jahren drehte Kristl auch sogenannte Sekundenfilme, die 1969 zum ersten mal gezeigt wurden. Die würde man gerne mal mit Wolfgang Bauers Mikrodramen, die ein paar Jahre früher entstanden, zusammenbringen. Aber schon August Strindberg verspürte Ende des vorletzten Jahrhunderts eine Tendenz hin zu Kunstverknappung. Christian Schulte stellt in diesem Büchlein ein paar der zahlreichen Kristl-Filme vor, u.a. Don Kihot, Arme Leute, Madeleine, Madeleine und Der Damm. Das Buch macht unbedingt Lust, eine Reihe von Filmen Kristls zu sehen. Vielleicht gibt es ja 2023 die Gelegenheit, anlässlich des 100. Geburtstags des Künstlers, den ein oder anderen Film als Trouvaille zu feiern. Bis dahin geht die Gesellschaft weiter ihren Weg und wartet auf Widerspruch.

 

Dieter Wenk (06-10)

 

Christian Schulte, Vlado Kristl. Die Zerstörung der Systeme, Hamburg 2010 (Verbrecher Verlag) Filit 2

 

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