Sex mit Sprechblasen
Tim Pilchers Sammlung „Erotische Comics“ hat die erste zusammenhängende Darstellung des Genres der erotischen Comics geschaffen.
Seit ihrer Entstehung Ende des 19. Jahrhunderts haben Comics so ziemlich jedes Kunstgenre durchlaufen. Den Funnies um Micky Maus und Donald Duck folgten die Adventure-, die Detektiv- und die SciFi-Comics, den biografischen Comic-Romanen die Reality-Novels. Neben diesen massentauglichen Genres bestand stets eine Szene-Gattung: die erotischen Comics. Spätestens seit Allan Moores „Lost Girls“ finden diese auch hierzulande eine stetig wachsende Leserschaft. Und in Frankreich, seit jeher libertärer, erlebt der italienische Comic-Zeichner Milo Manara mit seinen erotischen Geschichten derzeit ein schier unfassbares Revival.
Der britische Verleger und ehemalige Herausgeber der britischen „Comics International“ Tim Pilcher hat nun einen Sammelband zu „Erotischen Comics“ herausgegeben. Mit Pilcher als Fachmann wähnt man sich auf der sicheren Seite und meint, davon ausgehen zu können, es mit einem Werk von Gewicht und fachlicher Relevanz zu tun zu haben. Doch dies ist nur eingeschränkt der Fall. Bereits bei dem Untertitel von Tim Pilchers Kompendium „Erotische Comics – Das Beste aus zwei Jahrhunderten“ stutzt man, wird doch der erste Comicstrip Richard F. Outcault zugeschrieben, dessen „The Yellow Kid“ 1895 in der „New York World“ erschien. Wo kommen also die zwei Jahrhunderte her, von denen Pilcher spricht? Ganz einfach: Aus einem falschen Verständnis von Comic. Zugegeben, Comics zu definieren ist wie das Lösen eines gordischen Knotens, wie der amerikanische Literaturprofessor Robert C. Harvey 2001 in einem Aufsatz schrieb. Dennoch gibt es einen gemeinsamen Nenner: die sequentielle Erzählweise in Bilderfolgen.
Dieses Grundverständnis ignoriert Pilcher aber in seinem Werk erotischer Bilder konsequent. So ist die Kritik der ersten 30 einführenden Seiten zu seiner Sammlung erotischer „Comics“ vernichtend: „Thema verfehlt“. Auf diesen Seiten unternimmt er den seltsamen Versuch, den erotischen Comic in eine kunsthistorische Tradition der Aktmalerei – von griechischer Klassik über indische und ostasiatische Akt-Zeichnungen bis hin zu viktorianischen Gemälden – zu stellen. Als bedürfte es einer pseudo-intellektuellen Rechtfertigung für eine solche Genre-Darstellung. Dies ist bedauerlich, da sich in Pilchers Sammlung erotischer Zeichnungen durchaus einige Juwelen der erotischen Comickunst verbergen.
Pilcher erzählt mit kurzen und eingehenden Texten sowie begleitenden Bildern die Geschichte der erotischen Text-Bild-Erzählung in chronologischer Reihenfolge. Er beginnt seine Sammlung mit den nur selten anzüglichen Armee- und Kriegspostkarten zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Ebenso wie zahlreiche Ein-Bild-Cartoons hätte man sich diese in einer Sammlung erotischer Comics sparen können. Der wahre Auftakt erfolgt erst mit den in ihrer Bildsprache eindeutigen Tijuana-Bibles (auch Eight-Pagers oder Fuck-Books genannt) der 20er und 30er Jahre. Diese illegalen Heftchen lagen unter dem Ladentisch; ihre öffentliche Auslage hätte mehr als einen Skandal hervorgerufen. Es folgen wenig spektakuläre Ausführungen zu den Pin-up-Comics, bevor sich Pilcher dem Aufstieg der Soft-Porn-Strips in den amerikanischen Männer-Magazinen und damit Zeichnern wie Bill Ward, Dean Yeagle, Doug Sneyd, Harvey Kurzman oder Will Elder widmet.
Zu kurz kommt in dieser Sammlung außerdem die Erotisierung der Superhelden- und Abenteuer-Comics. Und auch die Geschichte um den amerikanischen Comic-Code sowie dessen deutsches Pendant, die Bundesprüf-stelle für jugendge-fährdende Schriften, lässt Pilcher nahezu komplett aus. Des Weiteren ignoriert Pilcher geflissentlich, dass Erotik oft erst im Kopf des Lesers entsteht und dort außerdem durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was unter Erotik eigentlich genau zu verstehen ist. So beschränkt sich Pilchers Buch vorwiegend auf eine Sammlung sexualisierter Zeichnungen als Minimalkonsens zu Erotik.
Tim Pilchers Buch ist daher keineswegs umfassend. Es bleiben erhebliche Lücken, denn neben den bereits erwähnten Zeichnerautoren Manara und Moore (die zumindest namentlich erwähnt werden) fehlen andere zeitgenössische Comiczeichner wie Ana Miralles oder Paolo E. Serpieri völlig. Dies mag an Pilchers starker Fokussierung des amerikanischen Comics liegen, dem wohl auch die Ignoranz gegenüber den japanischen Werken zuzuschreiben ist.
Allerdings trumpfen Pilchers „Erotische Comics“ im letzten Drittel noch einmal richtig auf, denn die erfolgreichsten internationalen Zeichner werden hier ausgiebig gefeiert. Erich von Gotha und Guido Crepax mit ihren sado-masochistischen Zeichnungen erfahren ihre Würdigung ebenso wie die Meister der bizarren Comix Robert Crumb oder Clay Wilson oder die Realisten W.G. Colbers oder Roberto Raviola, alias Magnus. Mit „Phoebe Zeit-Geist“, „Barbarella“, „Paulette“ oder „Les Aventures de Cléo“ werden außerdem die wichtigsten Serien aufgeführt. Hier schafft Pilcher das, was der Titel seines Werks verspricht: ein comicales Erotikon, in dem er all die kreative Vielfalt zu präsentieren weiß; von sinnlich über provokant bis hin zu schockierend.
Aufgrund der fehlenden Alternativen und dank der qualitativ hochwertigen Bildverarbeitung verkleinert Pilchers Werk dennoch eine bis dato klaffende Lücke der Comicrezeption.
Thomas Hummitzsch
Tim Pilcher: Erotische Comics. Das Beste aus zwei Jahrhunderten, Knesebeck-Verlag. München 2010. 192 Seiten. 24.95 EUR. ISBN: 3868731903