1. Juni 2010

Lästern bis zum Abwinken

 

 „Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Eindruck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes, das bei der ersten und leisesten Berührung erfolgt…“ Würde man in diesem Zitat den Namen Schopenhauers gegen den einer Pflanze austauschen, so würde jeder Anhalt dafür fehlen, dass man es hier mit der Kontaktaufnahme eines werdenden Philosophen mit einem schon bestehenden Textkorpus („Schopenhauer“) zu tun hat. Der hier so verzückt und zugleich so gebändigt und strategisch sein „heureka“ ausruft, ist der junge Friedrich Nietzsche, der in der dritten der Unzeitgemäßen Betrachtungen seinen Lehrer Schopenhauer feiert, nämlich „als Erzieher“.

 

Schopenhauer war zu dieser Zeit schon tot, aber er hatte sich ja als jugendliches Genie unsterblich gemacht in seinem Werk Die Welt als Wille und Vorstellung. Dieser Geniestreich führte jedoch nicht zu einer Philosophieprofessur. Aber auch Nietzsche blieb nicht lange in Basel, beide führten ein privates Gelehrtendasein, Freidenker, als freischwebende Intellektuelle, wie man das später nannte. Beide Denker waren also nur sich selbst verantwortlich und hatten keine Rücksicht zu nehmen. Das heißt nicht, dass sie bei all ihrer Schlauheit nicht auch Kinder ihrer Zeit waren. Schopenhauer hätte am liebsten für Tiere geschrieben, weil sie ihm so natürlich und wahr erschienen. Er gehörte zu denen, für die klar war, dass Metaphysik Männersache sei, und da das nun einmal die Kaiserdisziplin schlechthin darstelle für ein menschliches (männliches) Wesen, so konnte das „Weib“ nur als „subordinirtes Wesen“ charakterisiert werden.

 

Dieses Buch, das nicht mehr zu Lebzeiten Schopenhauers erschien, weil er darüber starb (es wäre aber auch nicht erschienen, wenn er 100 Jahre länger gelebt hätte), bietet dem Schopenhauer-Kenner nichts Neues. Senilia ist ein abruptes Buch, es ist eine lose Sammlung von Betrachtungen, Vorworten zu Wiederveröffentlichungen eigener Werke, sprachkritischen Beobachtungen; und 30 Jahre nach den Vituperationen gegen die „Hegelei“ ist der Ton nicht leiser geworden, immer noch wurmt es ihn, dass die falschen Leute die akademischen Lehrstühle besetzen. Ein Aspekt, der im Rahmen seiner Sprachkritik auffällt: dass es offensichtlich schon damals gewissermaßen systemische Bestrebungen gab, die Sprache kurz zu machen, aus viersilbigen Worten einen Dreisilber zu machen, auch wenn dabei, in Schopenhauers scharfer Kritik, der Sinn dabei das Wort verließ. Weniger war hier nicht mehr, sondern plötzlich gar nichts mehr. Verknappungen gehen nicht immer mit eleganten Verdichtungen einher. Oft ist das, was man für Wirtschaftlichkeit in Sachen Sprache hält, einfach nur eine semantischen Katastrophe.

 

Dabei war Schopenhauer so stolz auf seine Sprache, die unmittelbar aus dem Sanskrit zu kommen schien. Hier war eine Sprache so weit elaboriert und avanciert, dass sie als „auserwählte“ zu bezeichnen war, und sie hatte nichts besseres zu tun, als sich in Gestalt des Philosophen Hegel zu kompromittieren. Irgendwas musste hier falsch gelaufen sein. Aber was? Dafür muss man dann doch Schopenhauers Hauptwerk lesen, wo man darüber getröstet wird, dass auch der Intellekt nur ein „subordinirtes“ Leben führt.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Arthur Schopenhauer, Senilia. Gedanken im Alter, hrsg. von Franco Volpi und Ernst Ziegler, München 2010 (C.H.Beck)

 

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