10. November 2003

Die beste Bezahlung ist die Liebe

 

Tragisch ist eine Figur, wenn sie glaubt, über sich Bescheid zu wissen und sich genau darin täuscht. In diesem Sinne ist Marnie, die weibliche Heldin dieses Films, eine tragische Figur. Aber vielleicht täuscht sich Marnie nicht in erster Linie über sich, sondern über etwas anderes. Dieser Film ist ein warnendes Beispiel für Leute, die sich über die Psychoanalyse lustig machen. Die sich auf deren Kosten amüsieren und fast im selben Moment ergreifend zeigen, dass sie in deren Schuld stehen. Die Analyse lohnt sich immer, und da es sich bei Hitchcock meist nicht nur um eine Kurztherapie, sondern um eine einzige Kurzsitzung handelt, sollte man die ärztliche Hilfe nicht in den Wind schlagen, vor allem dann, wenn der (autodidaktische) Therapeut, wie hier, der eigene Mann ist.

Marnie, die frigide Kleptomanin, ist also in doppelter Hinsicht reif für ein Geständnis. Der Krimi ist relativ schnell zu Ende, wenn auch noch nicht ganz abgeschlossen, der andere Fall, der zwischen Mann und Frau, braucht ein bisschen länger. Es geht um nichts Geringeres als um die Freiräumung der gegenseitig erfahrbaren Idealität. Mark ist so schon eine Art Supermann, klar, dass Sean Connery die Rolle spielt. Er ist reich, Unternehmensbesitzer, charmant, klug, Witwer, und er liebt das Risiko. Nebenbei treibt er wissenschaftliche Studien, unter anderem über den Instinkt bei Tier und Weib. Er kann also erst einmal wunderbar diese neue Tippse einfach nur beobachten und schauen, was dabei passiert. Verliebt ist er natürlich von Anfang an. Und er weiß auch gleich, dass die Frau kriminell ist. Was er nicht weiß, ist, warum das so ist, und sein Job wird es sein, genau den Bogen herauszufinden, den der Zuschauer schon mal spannen konnte, als dieser gezeigt bekam, dass da irgendwas nicht stimmen kann zwischen Mutter und Tochter. Während der Zuschauer also schon die noch nicht analysierte Ursache kennt, muss sich Mark mühsam an den Symptomen entlang hangeln. Die rote Tinte auf der Weste, das Gewitter, der rotgepunktete Reiter auf dem Pferd namens Telepathie, die Unfähigkeit Marnies, von Männern berührt zu werden.

Vor dem Hintergrund von Marnies Satz: „Wir brauchen keine Männer, Mama“, hat Mark es also ziemlich schwer. Trotz seiner Klasse. Marnie bleibt dabei, die kalte Schulter zu zeigen, selbst nachdem Mark sie nicht an die Polizei ausliefert und sie sogar heiratet. Oder überschätzt sich Mark einfach? Vielleicht ist er überhaupt nicht ihr Typ und die Hochzeitsfahrt auf dem Dampfer eine einzige Groteske. Und dann noch Marks Entlarvung, den Arzt, ja Freud zu spielen, wo gar keine Krankheit im Spiel sei, aber just in dem Moment ist Marnie am Ende und zeigt ihr Leid nach so viel Maskerade. Marnie versucht sogar, sich umzubringen. Höchste Zeit, die Reise abzubrechen und die Analyse weiter zu treiben. Marks Schwägerin analysiert mit. Natürlich ist sie auch ein bisschen eifersüchtig. Aber sie bringt den Stein ins Rollen.

Am Ende sind Mark und Marnie da, wo alles Freud und Leid beginnt, bei ihrer Mutter. Und hier steht dann aber doch die Psychoanalyse dumm da, denn die Therapieform, die die Wahrheit zu Tage fördert, ist nicht die analytische Sitzung zwischen Analytiker und Analysant, sondern eine ganz einfache Familientherapie mit etwas ruppigen Methoden. Und alle sind am Ende reingewaschen, niemand hat einen Fehler gemacht, das Ziel heiligte auch das Mittel der Mutter, und erst jetzt ist die Tragödie richtig zu fassen, für die es gleichgültig sein wird, wie der anschließende Strafrechtsprozess für Marnie zu Ende gehen wird.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Alfred Hitchcock, Marnie, USA 1964</typohead>