22. Mai 2010

Anwachsendes Dunkel

 

Peter Gülkes kongeniale Würdigung Schumanns – des Werks und des Menschen

 

Allerorten geht die Rede von Chopin. Ein anderer, ebenbürtiger Jahresregent, Robert Schumann, ist vergleichsweise wenig beachtet worden. Mag sein, dass die Wortmeldungen zahlreicher werden – Schumanns Vita, teils auch das Werk, wäre zur popkulturellen Verwurstung durchaus geeignet –, dies lässt sich zuverlässig prognostizieren: Ein Schumann-Buch wird bleiben, weit übers Jahr 2010 hinaus, Peter Gülkes „Robert Schumann. Glück und Elend der Romantik“. Dies der Auftakt, abenteuerlich präzipitierend:

 

„Unter den Großen war er der Ungeduldigste. Entweder gelingt etwas sofort, oder es gelingt nie – das war die Prämisse seiner Arbeit […]. Schon die Einstiege dulden keinen Aufschub: Als wolle er nicht wahrhaben, daß es noch etwas anderes gibt als Musik, stürzt er in sie hinein. Könnte man, wie einst in der barocken Ouvertüre, verbindliche Anfangsrituale zum Maßstab nehmen, müßten seine typischsten Anfänge unstatthaft erscheinen. Zeremonielles Incipit […] mag er nicht.“ (9)

 

„Robert Schumann“ ist Dietrich Fischer-Dieskau „in herzlicher Verehrung“ gewidmet. Mit Gülke teilt ‚FiDi’ einen wichtigen Vorzug: Unter Deutschlands Autoren sind sie die beinahe einzigen vollgültigen Musiker. Sie allein können uneingeschränkt als musikalisch-literarische Doppelbegabungen gelten, sieht man vom Sonderfall Alfred Brendels für den Augenblick ab. Sie allein sind darin Schumann gleich, der neben Wagner zu den wenigen seiner Generation zählte, die jenem hoch gespannten romantischen Anspruch „progressiver“, medienübergreifender „Universalpoesie“ gerecht zu werden vermochten.

 

Peter Gülke hat als Kapellmeister, teils Generalmusikdirektor in Dresden und Weimar firmiert – mit karajanesk aufgeföhnten Haar, worin sich die Gemeinsamkeiten glücklicherweise erschöpfen –, nicht wenige Platten aufgenommen und allerlei wissenschaftliche Ausgaben von Notenmaterial besorgt. Sein publizistisches Schaffen umspannt die ‚abendländische’ Musikgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert und wissenschaftliche wie populärere Formate. Wer Gülke schließlich in mündlicher Rede erlebt, weiß, was Eloquenz und praktischer Humanismus bedeuten, und mag eine Ahnung gewinnen, wie Schumann gesprochen haben mag: Beiden eignet die sächselnde Mundart. Gülke zu lesen ist ein eben solches Vergnügen – dies umso mehr, als ‚Musikalität’ sich nicht aufs Klangliche beschränkt, das gleichwohl virtuos gearbeitet scheint, vielmehr im Gedankenfluss gründet, dessen Kontrasten und Volten, verlangsamten und beschleunigten Tempi, Momenten von Überraschung und Schock, Strecken des Zögerns und der Verinnerlichung.

 

Unter Deutschlands ‚Musikschriftstellern’ setzt keiner so viele, verschiedenartige Satzzeichen ein – darunter Strichpunkt und Ausrufezeichen –, die aus Gründen der Ökonomie und Dezenz (oder mangelnder Vorstellungskraft), von vielen der schreibenden Zunft schnöde vernachlässigt werden. Solcher Reichtum der Phrasierung hilft rhythmische, klangliche Information übertragen, die um den Kern der Wortbedeutungen semantische Unwägbarkeiten bildet. Die Neigung, Wortprägungen oder Metaphern Seiten später vorderhand unmotiviert wiederaufzunehmen, auch ‚absichtslos’ hingeworfene Alliterationen verstärken die aparte Klanglichkeit dieser Prosa. Dabei weiß Gülke das Maß der Metapherndistanz geschickt zu kalibrieren: Hier wirkt nichts erkünstelt, bemüht. Ebenso wenig begegnen erschöpfte, klischeehaft erstarrte Metaphern.

 

Geistige Wachheit und Sinn fürs Fragment, verbunden mit seltenem Ausdrucksvermögen – Gülke ist Essayist im vornehmsten Sinne, fähig zu System und Synopsis, fähig zugleich, sie souverän zu übersteigen, und dadurch zum Schumann-Interpreten prädestiniert: „Wie schnell z. B. arbeiten wir, den Orthodoxien eines festgefügten Bildes opponierend, dem nächsten Bild, der nächsten Orthodoxie, zu! Die Rede von einem Bach-, Mozart- oder Beethovenbild, das wir hätten, ist nicht nur fragwürdig, weil es durchblicken läßt, daß wir froh sind, eines zu haben. ‚Es ist gleich tödlich für den Geist’, so Friedrich Schlegel, ‚ein System zu haben, und keines zu haben. Er wird sich also wohl entscheiden müssen, beides zu verbinden.’“ (15)

 

Dies gilt für Schumann kaum weniger: Das Unfertige, Unausgeglichene – nach Gestalt und Grad des Gelingens – haftet Schumanns Kompositionen, mehr noch: unserem Bild davon, hartnäckig an. Darüber wird Schumanns synthetische Kraft häufig missachtet: „Tatsächlich hat Schumann, im mittel- und westeuropäischen Raum einstweilen als letzter, alles gewollt – in Bezug auf musikalische Gattungen, im Zugleich von Komposition und Musikschriftstellerei, von kreativ-selbstbezogener Befangenheit und selbstvergessener Bewunderung der Musik anderer, beim Festhalten an praktischer Ausübung und im Beieinander von riskanter Künstlerexistenz und bürgerlich-solider Familiarität. […] Der Totalanspruch […] duldete keine pragmatischen Arbeitsteilungen. Meyerbeer, Verdi und Wagner haben neben Bühnenwerken kaum vergleichbar Bedeutendes komponiert, Chopin fast ausschließlich fürs Klavier, Berlioz keine nennenswerte Klavier- oder Kammermusik, Mendelssohn, Liszt, Brahms und Bruckner keine Oper.“ (26)

 

So sicher verfügt Gülke über den Stoff – auch dort, wo andere nur mehr sinnfrei kompilieren: Der Anhang bietet eine gehaltvolle, gründlich gearbeitete „Zeittafel“ (215 ff.). Nicht wenige aufschlussreiche, selten gewürdigte Episoden der Vita werden zur Sprache gebracht, darunter der Selbstmord der Schwester und Schumanns jugendliche, fast kindliche Faszination mit „Hölderlins vierzigjährigem geistigem Nachtleben“.

 

„Am 27. Februar [1854] dann […] springt er in den Rhein und wird gerettet. Zuvor schon hatte er zu verstehen gegeben, daß er – auch, um Clara vor Aggressionen zu bewahren – in eine Anstalt gebracht werden wollte. […] Weit über ein Jahr schreibt er keineswegs geistesgestörte Briefe und sitzt in der Anstalt oft am Klavier; manches deutet darauf hin, daß er das Sterben durch Nahrungsverweigerung beschleunigen wollte […]. Die Vorstellung des zunehmend von der Krankheit Erdrückten, als nur Leidender von einer Niederlage in die nächste Taumelnden widerlegt er, indem er noch den Niederlagen Sinn geben, gegen das anwachsende Dunkel Handlungsräume freihalten will. Dies zeigt sich noch […], wenn er den Besucher Joseph Joachim ‚geheimnisvoll in eine Ecke’ zieht und ihm zuraunt, ‚er müsse von Endenich weg, denn die Leute verständen ihn gar nicht, was er bedeute und wolle’.“ (206 f.)

 

Daniel Krause

 

 

Peter Gülke: Robert Schumann. Glück und Elend der Romantik. Wien, Zsolnay 2010

 

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