20. Mai 2010

Kurkonzert

 

Überall, wo man hinsieht, sind Spezialisten am Werk. Ob wir es wollen oder nicht. Meistens setzen wir es sogar voraus. Das Dirigat einer Komposition welchen Musikers auch immer wollen wir nicht den Armbewegungskünsten eines den Verkehrsfluss regelnden Polizisten an einer Kreuzung an die Hand geben. Banken sollen, wenn schon denn schon, hochprofessionell in den Abgrund geführt werden. Dilettanten und Amateure, wie glücklich sie auch immer mit sich selbst und ihren engsten Freunden sein mögen, sind die Katastrophe – für die anderen.

 

Man muss jedoch nicht gleich Paul Feyerabend heißen, um hier die Ohren zu spitzen und wenigstens eine Ehrenrettung zu versuchen. Feyerabend drehte den Spieß einfach um. Ohne Dilettanten keine Wissenschaft, die meisten Erkenntnisse stammten von Nicht-Spezialisten. Der Anarchist der Wissenschaftstheorie legt den Finger in die Wunde. Objektiv gesehen gebe es weder reine Wissenschaftler noch reine Dilettanten. Was in der einen Zeit als hoch objektiv galt, verkommt in der nächsten zum erkenntnistheoretischen Scherz. Es fehlen die zeitübergreifenden Standards, die ein für allemal zu unterscheiden erlauben, wer auf der guten (wissenschaftlichen) und wer auf der schlechten (letztlich hochstaplerischen) Seite sich befindet. Überhaupt gibt die Wissenschaft nicht das einzige Feld ab, auf dem sich Dilettanten tummeln. Ist nicht etwa die bildende Kunst voll von ihnen? Ein Mann wie Henri Rousseau, der legendäre „Zöllner“, Autodidakt und Liebling einer ganzen Reihe (professioneller?) Künstler wie Picasso und der meisten unter den Surrealisten – mehr als eine Pointe der Kunstgeschichte? Oder ein Mann wie Beuys, der vor allem in Fett und Filz aufging, absolut professionelles Auftreten und Vermarkten einer Eigenheit, die vor allem den Amateur verstanden als Liebhaber auszeichnet?

 

Man kommt hier – und das zeigt dieser Sammelband deutlich – einigermaßen ins Schwimmen, wo denn nun genau die Professionalität stecke und wo man es (noch) mit Dilettantismus zu tun habe. Ist es nicht äußerst professionell, ein „Institut für Erfindungen“ (und sei es zu Kriegszeiten) ins Leben rufen zu wollen, wie das ein gewisser Dr. Sommer vor knapp 100 Jahren probiert hat, auch wenn dabei nur Amateurhaftes herauskommen würde? Und durch was autorisiert sich eigentlich ein Psychoanalytiker, wenn das Fach noch nicht einmal an der Universität angeboten wird? Durch sich selbst (wie das eine zeitlang der Psychoanalytiker Jacques Lacan gedacht hat) oder durch den Segen dieser sehr speziellen Kirche in Gestalt ihrer Lehranalytiker?

 

Und was hat man sich eigentlich unter einem Institut für „Genauigkeit und Seele“ vorzustellen, das als Projekt den Mann ohne Eigenschaften durchzieht? Die Themen dieses Readers sind sehr unterschiedlich, aber sie alle haben einen (geheimen?) Fluchtpunkt, nämlich anfängliche Gewissheiten bezüglich der angeblich so sauber zu realisierenden Gegenüberstellung von Fachmann und Dilettant zumindest zu überdenken. Auch Musils Ulrich ist ja nicht sehr glücklich mit seiner reinen Mathematik. Und der Dilettant ist ja meist Spezialist in was anderem, auch wenn die meisten davon in der Regel nichts mitbekommen. Das ist vielleicht auch ganz gut so, denn ein allseits publizierter Ordnungswahn würde vermutlich schnell eine abermalige Revision der Gegenüberstellung von Spezialist und Dilettant zur Folge haben.

 

Dieter Wenk (05-10)

 

Safia Azzouni/Uwe Wirth (Hg.), Dilettantismus als Beruf, Berlin 2010 (Kulturverlag Kadmos Berlin), Kaleidogramme Band 43

 

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