19. Mai 2010

Stadt des Spektakels

 

Ein Foto zeigt einen ganz gewöhnlichen Vorgang in Venedig: Ein chinesischer Tourist kauft die Imitation einer Markenhandtasche von einem senegalesischen Straßenhändler. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde die Tasche entweder in China oder in einem von chinesischen Einwanderern betriebenen Betrieb in Italien hergestellt. Vom ‚Original‘, das oft aus derselben Fabrik stammt, unterscheidet sie unter Umständen nichts als das Label und der „Made in China“-Aufkleber, die der Straßenhändler vorher sorgfältig entfernt. Das Pflaster der Kanalufer ist übersät mit solchen kleinen Aufklebern.

 

In diesem Bild sind die wichtigsten Komponenten des Projekts „Migropolis“ versammelt. Von 2006 bis 2009 haben Wolfgang Scheppe und Studierende der IUAV-Universität von Venedig Daten, Fotos und Interviews gesammelt, die Venedig konsequent – und plausibel – ins Zentrum globaler Spannungsfelder stellen: der Zirkulation von Waren und Bildern, vor allem aber der Begegnung zweier Menschenströme, von denen die Stadt lebt und die doch immer wieder in der lokalen Presse als Bedrohung für ihre Identität dargestellt werden: TouristInnen und MigrantInnen. „Migropolis“ hieß schließlich die Ausstellung in der venezianischen „Fondazione Bevilacqua“, und das zweibändige Begleitbuch, in dem die Ergebnisse der Recherchen in einer beeindruckenden Zusammenstellung von Bildern, Statistiken, Karten und Texten versammelt sind.

 

Dass Phänomene der Globalisierung am Beispiel von Venedig dargestellt werden, einer Stadt, die weder zu den Metropolen der Weltwirtschaft noch zu den Elendszonen an deren enormer Peripherie gehört, ist nicht selbstverständlich. Hält man sich aber das irrsinnige Verhältnis von Touristen und Einheimischen vor Augen – die Zahl der täglichen BesucherInnen liegt knapp unter der ständig sinkenden Zahl an EinwohnerInnen – und sieht Venedig im Rahmen des europäischen Grenzregimes, dann wird klar, dass die Stadt nicht anders als unter dem Aspekt globaler Ökonomie und Migration betrachtet werden kann. Die globale Aufteilung des Reichtums reproduziert sich in der Begegnung von prekär und oft ohne legalen Aufenthaltsstatus lebenden MigrantInnen und mehr oder weniger reichen TouristInnen.

Die meisten der BesucherInnen kommen mit festen Vorstellungen von dem, was sie erwartet. „It’s like being in a photograph that you have in your mind“ beschreibt eine Touristin ihren Eindruck. Venedig hat sich längst zu einem festen visuellen Klischee entwickelt, das selbst Teil seiner globalen Existenz ist. Gerade weil es immer unvergleichlich und einzigartig genannt wird, fordert es Vergleiche wie „Venedig des Nordens“ (u. a. Brügge, Hamburg, Amsterdam) oder Nachbauten, wie in einem Kasino in Las Vegas, heraus. Eine solche Stadt lädt zur Kritik des Bildes geradezu ein. Und diese Kritik leistet „Migropolis“ nicht nur in den Kapiteln, die der Zirkulation von Venedig-Simulakren weltweit gewidmet sind, bis hin zur Massenproduktion von typischen Ölschinken mit echtem Lokalkolorit in chinesischen Manufakturen. Die stärkste Kritik des Bildes von Venedig liegt sicherlich in den Bildern des Projekts selbst.

 

Wolfgang Scheppe und seine MitarbeiterInnen beziehen sich ausgiebig auf Guy Debord und die Situationisten, auf die Konzepte des dérive, der Psychogeografie und natürlich des Spektakels. „Das Spektakel ist das Kapital von einem solchen Akkumulationsgrad, dass es Bild wird“, heißt es in der „Gesellschaft des Spektakels“, und nirgends scheint das plausibler zu werden als beim kapitalisierten Venedig. Und wie die Situationisten verfahren die MacherInnen von „Migropolis“ bei der Kritik des Spektakels nicht ikonoklastisch, sondern greifen selbst zum Mittel des Bildes.

Die Fotos zeigen die öden Industrieviertel von Mestre auf dem Festland, wo die Stellen der nächtlichen Prostitution am Tag gezeigt werden, sodass Huren-Romantik gar nicht erst möglich wird; die Senegalesen auf den Plätzen und Gassen Venedigs, die in ständiger Beobachtung der Polizei versuchen, mit Straßenhandel zu überleben; die enormen Werbeflächen an den Baugerüsten vor den Fassaden der großen Palazzi, auf denen für eben die Marken geworben wird, deren nicht-autorisierte Kopien die sans papiers auf der Straße verkaufen. Und wenn die typischen, eben bekannten Venedig-Ansichten gezeigt werden, kann man sicher sein, dass entweder ein Detail – eine blaue Plastik-Tüte oder eine Polizei-Uniform – das eigentlich Wichtige des Bildes ist, oder es steht im Vordergrund ein Tourist, der genau dieses viel zu oft gesehene Bild nun selbst aufnehmen muss. Wenn es sich überhaupt um Venedig handelt und nicht um eine seiner zahlreichen Nachbildungen.

Ein seit den 20er Jahren bekannter Topos kommt hier zum Tragen: Bilder lesen zu lernen. Und er verbindet sich mit einem anderen – noch älteren – Thema: dem Lesen der Stadt. In beiden Fällen wird bei allem Wissen um die Faszination des Gegenstands dieser systematisch all seines Zaubers entleert. Übrig bleibt neben den Fotos ein Gerippe von Statistiken, Grafiken, Zahlen. Dabei sind die MacherInnen sich auch vollkommen der Problematik einer Grafik bewusst. Bekannte Formen der grafischen Darstellung statistischer Ergebnisse werden vermieden oder ironisiert – etwa beim Nachbau von Alterspyramiden aus Pappscheiben. Schon auf dem Deckblatt sind drei Fragen ironisch als Segmente eines Tortendiagramms dargestellt: „Is the map the territory? Is conflict quantitative? Is the image evidence?“ Die Diagramme in den beiden Bänden verlangen dagegen bewusst eine zum Teil anstrengende Lektüre, sie sind nicht sparsam mit Informationen und bleiben doch, oft in den Begleittexten, misstrauisch gegenüber der Darstellung von statistischen Informationen.

 

Wie bei den Fotografien ‚übersetzt‘ aber nicht immer der Text allein das Bild in eine kritische Lektüre. Schon der Platz, der der Schrift eingeräumt wird – winzig klein am unteren Rand – deutet darauf hin, dass die Bilder für die Wirkung wesentlich sind, dass sie einen „Trick der Evidenz“ mit sich führen, wie Walter Benjamin das einmal nannte, der aber keinesfalls in der Evidenz des unmittelbar Sichtbaren liegt. Die Texte trainieren einen Blick ein, der sich von naiver Anschauung löst.

 

Dass dagegen die Texte selbst stellenweise analytische Tiefe vermissen lassen, fällt gegenüber der Konzeption des Bandes dann seltsamerweise gar nicht so ins Gewicht. Es gibt hier durchaus die üblichen Verdächtigen und Verkürzungen der Globalisierungskritik. Wenn der Dollar als Ursache für Armut bezeichnet oder ein ganzes Unterkapitel McDonald’s gewidmet wird, dann bleibt „Migropolis“ situationistisch gesprochen auf der Ebene des Spektakels stehen.

 

Dass der Zauber Venedigs Schein ist, dass es eben nicht auf die Bewahrung eines essenziellen kulturellen Wertes oder sonstiger Distinktionen ankommt, sondern gerade die reale Abstraktion globaler Ökonomie in Venedig zu sehen ist, bleibt aber grundlegend für den Ansatz des Buchs. Dennoch wäre es kaum vorstellbar ohne die von Venedig ausgeübte Attraktion. Hätte das Projekt z. B. Frankfurt a. M. in den Mittelpunkt gestellt, wo immerhin nicht nur ein paar TouristInnen, sondern vor allem MessebesucherInnen neben den MigrantInnen zu beobachten wären, dann hätte „Migropolis“ wohl kaum ein größeres Publikum erwarten können, kaum eine so ansprechende Aufmachung gehabt und wäre wahrscheinlich auch nicht von der Stiftung Buchkunst als „eines der schönsten Bücher“ des vergangenen Jahres prämiert worden.

 

So anregend und gelungen der politische Anspruch des Buchs im Einzelnen und in seiner Ausführung – vielleicht weniger in einzelnen Aussagen – ist, es wäre durchaus zu wünschen gewesen, die MacherInnen hätten auch die eigenen Produktionsbedingungen reflektiert. So kann Angela Vettese von der „Fondazione Bevilacqua“ im Vorwort – ohne sich der Fragwürdigkeit angesichts des vorliegenden Bandes bewusst zu sein – die Hoffnung äußern, dass Projekte wie „Migropolis“ gegen den ‚oberflächlichen‘ Tourismus Venedig wieder kulturelle Relevanz geben. Die Migranten kommen hier schon gar nicht mehr vor.

 

Jan Gerstner

 

Migropolis. Venice / Atlas of a Global Situation. Wolfgang Scheppe & the IUAV Class on Politics of Representation. Ostfildern: Hatje Cantz 2009. 1344 Seiten. ISBN 978-3-7757-2485-2, 78 Euro

 

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