12. Mai 2010

Von der Kunst des Heilens

 

Nach der Reform ist vor der Reform, erst recht im Bereich der Gesundheit. Obwohl Änderungen von involvierten Politikern meist vollmundig als Jahrhundertlösung gepriesen werden, halten die Versprechungen häufig mit Müh und Not gerade bis zur nächsten Legislaturperiode. Dann werden die Bedingungen, unter denen kranke Menschen genesen dürfen, wieder zur Disposition gestellt und am Grünen Tisch machtpolitisch ausgehandelt, in der Regel zum Nachteil der Betroffenen: Gebühren, Zuzahlungen und was der Katalog der Leistungen der Krankenkassen noch hergibt, wird seit Jahrzehnten in einer Salamitaktik gemindert. Obwohl den Versicherten mehr und mehr Geld aus den Taschen gezogen wird, sinken die Leistungen auf das sogenannte medizinisch Notwendige. In dem rituellen Schlagabtausch kommen zwei Gruppen nicht vor: Die Ärzteschaft und die Patienten, um deren Wohl und Besserung es eigentlich gehen müsste; jedenfalls nicht in einer Position, die notwendige Bedürfnisse formulieren kann und einfordern darf. Repräsentanten dieser Gruppen sind lediglich dann wohlgelitten, wenn sie sich als Sockenpuppen der Lobby dem Druck beugen, der als objektiver ökonomischer Sachzwang wie eine Monstranz die klare Sicht verbaut. Zufall oder Absicht? Diese armselige Tradition ist weder verwunderlich noch beschränkt sie sich auf ein nationales Territorium.

Der Arzt Christian Hess und die Psychoanalytikerin Annina Hess-Cabalzar, seine Koautorin und Ehefrau, aus dem winzigen Bezirk Affoltern im Kanton Zürich klagten schon 2001 in einem Buch über die tristen Zustände, die sich bisher verschlimmert haben. Ihre sorgfältige Diagnose der verkorksten Gesundheitspolitik zielte damals auf die Schweiz und trifft heute noch, und zwar mehr denn je, die bundesdeutschen Verhältnisse, in denen Effizienz und Effektivität plakativ verlautbart werden, obwohl es sich bei näherer Betrachtung um eine maßlose Verschwendung handelt. Eine Verschwendung von materiellen Ressourcen, eine Verschwendung von Zeit und Geld, eine Verschwendung von ärztlicher Kunst und der Gesundheit der Patienten. Denn solange Medikamente und medizinische Leistungen als wirtschaftlicher Sektor missverstanden werden, der möglichst viel Profit für die Firmen zu erbringen hat, gerät die Heilung ins Abseits. Aus dieser Perspektive ist sie vielmehr unerwünscht, zumal durch Nebenwirkungen evozierte Leiden neue Verdienstmöglichkeiten bieten. Auf diese absurde Weise geregelt, entsteht eine kontraproduktive Spirale, bei der die Patienten kränker und kränker werden, während die Kosten explodieren. Solange Reformen innerhalb des Status Quo erfolgen, werde sich an dieser verhängnisvollen Dynamik nichts ändern; die Krise werde bloß um eine Gnadenfrist aufgeschoben, konstatiert Hess.

Die Rolle des Arztes begnügt sich nicht mit der Anamnese, sie möchte eine Therapie anwenden, die dem Patienten hilft und das Leiden heilt. Hess und Hess-Cabalzar wissen genau, worauf sie sich eingelassen haben und was sie leisten können, weil sie in Jahren der Praxis unbefangen dazu gelernt haben und im Bezirksspital Affoltern am Albis ihre Erkenntnisse umsetzen können. In einem jahrelangen Prozess ist daraus das Modell Affoltern entstanden, das in dem Buch vorgestellt wird. Die Autoren zeichnen sich durch eine wohltuende Bodenhaftung, reiches Wissen und wache Sinne aus, mit denen sie über den Tellerrand der Schulmedizin blicken. Bei ihren Praxisjahren im Ausland, besonders in vermeintlich unterentwickelten Ländern wie denen Afrikas, die sonst vom eurozentrischen Leuchtturm despektierlich als rückständig, provinziell und abergläubisch verachtet werden, haben sie Heilungsmethoden miteinander verglichen, ohne plump rassistisch vorzuverurteilen. Und dabei haben sie das Gebrechen des westlichen Systems erkannt, dem sie mit ihren Erfahrungen vor allem aus Tansania zu Leibe rücken, wobei sie sich vom Pfusch an Symptomen wie bei den Reformen distanzieren, um die Wurzel des Übels zu beseitigen.

Die Kritik bis ins Mark könnte den Eindruck erwecken, hier wären esoterische Scharlatane am Werk, doch das ist ein Trugschluss. Grundlage ihrer Menschenmedizin bleibt die klassische Schulmedizin, die sie von Grund auf in ein interdisziplinäres Konzept eingebunden haben, das zunächst befremden mag, weil es unausgesprochene Axiome des akademischen Lehrfaches reflektiert und, wenn nötig, revidiert. Sie setzen nämlich bei dem mechanistischen Menschenbild des cartesianischen Reparaturbetriebes an, das überall angewandt wird, obwohl sich niemand mit dessen systematischen Schwächen auseinandergesetzt hat. Das lineare Modell humanen Lebens orientiert sich an einem homogenen Ideal, das meilenweit von der Realität entfernt ist, während Leben an sich heterogen und grundsätzlich unwiederholbar ist. Zum Beweis führen sie triftige Einwände ins Feld, die sich mit den alltäglichen Erfahrungen der meisten von uns decken: Sie fragen, warum manche Raucher trotz der erwiesenen toxischen Wirkung steinalt werden, zeitlebens auf bewusste Ernährung, Fitness und genügend Schlaf achtende Leute jedoch scheinbar grundlos vergleichsweise jung erkranken und versterben. In das schulmedizinische Schmalspurmodell, das nur entweder Leib oder Psyche kennt, fügen sie die vermittelnde Instanz der Seele, die durch Spiritualität wirkt, wie an (guten) Placebos und (bösen) Nocebos deutlich wird.

Durch das dreigliedrige Körper-Geist-Seele-Modell wandelt sich die Schulmedizin von einem Handwerk zu einer Kunst des Heilens, durch das die Rollen der Beteiligten verändert werden. Die Mediziner erkennen dabei die Selbstheilungskräfte der Patienten an, die nicht als Hindernis ignoriert oder beseitigt, sondern vielmehr gefördert und unterstützt werden sollen. Weil die Patienten keine passiven Objekte mehr sind, muss deren Bedürfnissen Rechnung getragen werden, indem eine gute menschliche Beziehung zum behandelnden Arzt unabdingbar wird und die fremde Umgebung des Krankenhauses so eingerichtet wird, dass die Kranken sich wohl fühlen. Ziel der Therapie wird ein Wandel der Lebensbedingungen der Erkrankten, die entweder ihr Risiko, erneut eingeliefert zu werden, minimieren oder mit den physischen, psychischen und seelischen Einschränkungen ihren Frieden schließen müssen. Die Behandelten müssen deswegen aktiv an ihrer Gesundung mitwirken.

Im Gegensatz zum Konzept der WHO, die Krankheit als Abwesenheit von Leiden definiert und als unvereinbar mit Gesundheit betrachtet, fordern Hess und Hess-Cabalzar ein grundsätzlich anderes Verhältnis zwischen Gesundsein und Kranksein. Den absoluten Zwang, Krankheit um buchstäblich jeden Preis zu vernichten, der sich aus der WHO-Definition ergibt, erkauft sich die Gesellschaft mit einer Pathologisierung immer weiterer Teile menschlichen Befindens, ohne ihrem Ziel auch nur im entferntesten näherzukommen. Das herrschende manichäische Weltbild treibt als Katalysator die Spirale der Kosten an, obwohl es nicht weltfremder sein kann. Die Autoren plädieren deshalb für einen polaren Kreislauf zwischen den Zuständen krank und gesund, zumal fast jeder Mensch seine Wehwehchen und Zipperlein hat. Medizinische Therapien haben den Zweck, die Patienten dabei zu stimulieren, gesünder zu werden (Salutogenese nach Anton Antonovsky), wobei geisteswissenschaftliche, psychotherapeutische, philosophische und künstlerische Mittel diesen Prozess im Sinne der Behandelten unterstützend hingezogen werden können.

Hess und Hess-Cabalzar sprechen von einer Universellen Psychosomatik, bei der es darum geht, von Mensch zu Mensch, einen Menschen mit seiner individuellen Biographie zu heilen, und nicht darum, eine aus dem ICD-10 stammende Nummer von einem belebten Objekt zu tilgen. Weil sie die Befangenheit weiter Teile der Bevölkerung kennen, wenn das Wort Psychotherapie fällt, lassen sie den Patienten Zeit, sich mit dem Konzept vertraut zu machen und die Differenz zu erkennen. Das Buch ist kein Hirngespinst, sondern hat sich in einem normalen kommunalen Krankenhaus seit den 1970er Jahren bewährt, formuliert wurde es jedoch erstmals 1996 und liegt heute in einer dritten, überarbeiteten Fassung vor. Theoretisch könnte das Modell Affoltern weltweit übernommen werden, auch hierzulande; doch dazu müsste der Einfluss der Lobby gebrochen werden.

Der Band wendet sich an ein breites Publikum und vermeidet den medizinischen Fachjargon weitgehend, weshalb er nicht nur für Mediziner und Pflegekräfte interessant ist, sondern für jede, die sich für eine vernünftigere Gesundheitspolitik einsetzen. Die Fallstudien von Annina Hess-Cabalzar weisen allerdings eine disparate Qualität auf: Ein Teil genügt den Beschränkungen durch die ärztliche Schweigepflicht und den Datenschutz, allerdings finden sich auf mindestens zwei darunter, die deswegen so verkürzt sind, dass sie in ihrer Abstraktion surreal, kryptisch und kafkaesk wirken. Der Philosoph Wilhelm Schmid ergänzt in einem Gastbeitrag das Buch mit einem Blick von außen. Von den seltenen Helvetizismen sollte sich niemand abschrecken lassen. Empfehlenswert ist es allemal, ein Volksbuch im besten Sinne.

 

Britta Madeleine Woitschig (04/10)

 

Christian Hess / Annina Hess-Cabalzar: Menschenmedizin. Von der Vernunft der Vernetzung (Tb.: Für eine kluge Heilkunst), Zürich: Rüffer&Rub Sachbuchverlag 2001 (Geb.), Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag KG 2006 (Tb.), 224 Seiten, ISBN 3-907625-05-6 (Geb.), ISBN 978-3-518-45819-8 (Tb.)

 

www.spitalaffoltern.ch