Grenzgänger, oder: In naher Ferne, so weit!
Von Tim Personn
Später, wenn wir uns während unserer Wanderung ihren Anfang ins Gedächtnis riefen, wenn die müde getretenen Füße taub wurden und wir im stummen Vorausmarsch den Geist rückwärts stapfen ließen, da sollten wir uns noch oft daran erinnern, an diesen Moment. An den Durchbruch aus dem kühlen Waldhang, herab und hinaus in einen anderen Sommer. An einen anderen Ort, der zugleich näher und ferner war, als wir gedacht hatten. Ein weites, grünes, verwachsenes Tal, von dem der Verstand uns sagte, dass es mitten in Hamburgs reichem Westen lag, nördlich des Elbufers, aber das so verlassen in der Hitze döste, so still und regungslos in seinem eigentümlichen Mittagsschlaf, dass es auch uns einlullte und für einen Moment glauben machte, es sei aus Zeit und Raum gefallen. Erst als wir hinein wanderten, über eine wuchernde Wiese und zwischen Baumgruppen hindurch, tauchte mit dem Anblick einer weißen Villa am äußersten Ende des Tals auch meine Skepsis wieder auf und das Entdeckergefühl verschwand. Aber dieser kurze Moment beim ungläubigen Abstieg, dieser Ausbruch, diese Hoffnung sollte während unserer Wanderung zum Muster werden. So wie dort sollte ich an so vielen Orten unser Mantra wiederholen – ja, auch das war noch Hamburg – immer dann stoisch ergriffen, wenn ich mich als Teil der kleinen, diese unwahrscheinliche Tour gemeinsam bestreitenden Gruppe fühlte; immer dann schmunzelnd, wenn ich wieder zu einem Individuum zusammenschrumpfte, im Bewusstsein der Künstlichkeit unserer Suche.
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„Hab ich echt genug von.“ „Was?“ „Von der Stadt.“ „Wo willst du denn hin?“ „Keine Ahnung. Weg. Schau dir mal allein die Leute an: Morgens schon mürrisch. Ist ja kein Wunder. Der Rest von Deutschland hat noch Sommer, und hier ist schon Herbst. Regen, tagelang keine Sonne. Das macht was mit den Menschen.“ „Hamburg – das Spitzbergen Norddeutschlands.“ „Du weißt doch, was ich meine.“ „Siehst du sie denn überhaupt noch?“ „Wen?“ „Die Stadt.“ „Ob ich die Stadt noch sehe?“ „Das fällt doch irgendwann unter die Wahrnehmungsschwelle. Unsere ständige Umgebung. Irgendwann ist alles eingeordnet, sortiert, abgeheftet. Dann geht man da doch gar nicht mehr ran.“ „Oh Mann, Psychologie für Erstsemester.“ „Vielleicht brauchst du eine neue Perspektive. Geh doch... ja, genau, geh doch einfach mal um die Stadt herum. In einem Kreis um Hamburg, immer entlang der Stadtgrenze.“ „Weißt du eigentlich, wie lange so was dauert?“ „Nein. Aber das kannst du mir dann ja sagen. Wenn du wieder da bist.“
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Einer meine besten Lehrer im College – ein kleiner, dicker, brillanter Dichter – hat mir einmal geraten, die größtmögliche Distanz zwischen sich und seinen Text zu bringen. Schick dein Kind allein in den Urlaub, und du wirst es nicht wiedererkennen. Schick deinen Text in die Wüste. Setz ihn in die hässlichste Schrift, die du kennst, ohne Absätze, ohne Zeilenumbrüche. Erst dann siehst du, im Raubvogelblick auf diese Buchstabenödnis, die irgendjemand da hingeworfen hat – ein Anfänger, glasklar – wo die Wasserquellen sind, und wo die ausgetrockneten, toten Täler. Fragt man Semiotiker, ist auch eine Stadt ein Text, allerdings einer, der sich natürlich nicht so einfach in einen Editor laden und in Courier setzen lässt. Wie verfremdest du diesen alltäglichen Text, mit dem du lebst? Den du dir über Jahre erschrieben und so viele Male gelesen hast, das du ihn auswendig kannst? Barmbek, Wandsbek, Altona. Der Uni-Campus mit seinen Plastiktüten- und Tetrapak-Pennern, mit seinen rosa Hemden- und Stehkragen-Juristen und seinen verratzten, bärtigen, Gauloise frühstückenden Philosophen. Der Kiez mit seinen Licht blutenden Leuchtreklamen, mit seinen asiatischen Touristen und Nutten in Daunenjacken. Das gentrifizierte Schanzenviertel. Die Geschäftsleute an der Alster, die Tauben am Gänsemarkt, der Hauptbahnhof mit seinem Fett- und Uringeruch und den kreischenden Gleisen. Wie siehst du das Bekannte mit anderen Augen? Wie siehst du es als etwas Neues? Vielleicht wirklich Distanz gewinnen, an der Peripherie? Entlang der Grenze, immer entweder gerade noch drinnen oder schon etwas draußen? Vielleicht da, als Grenzgänger?
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Die erste Stadtgrenze, die wir fanden, war ein Reitweg. Kühler Schlamm, der beim Durchschreiten schmatzte, ein von Insekten bedecktes Feuchtbiotop, verborgen vor der Morgensonne, die sich im Laubwerk verfing – draußen im Moor bei Waldenau, nordwestlich der Stadt. Das Schuhwerk geschnürt, die Glieder entspannt, begann die Wanderung in sonntäglicher Ausflugsstimmung, hinaus in die Felder, ungeachtet der Distanzen, die da auf uns warteten. Zu unserer Rechten meinten wir noch ein paar Rehe gesichtet zu haben, und dann, wo der Moordamm an sein Ende kam, traf uns die Sonne mit ihrer ganzen frühmorgendlichen, wärmenden Wucht. Rentnerpaare waren schon unterwegs, auf Fahrrädern: Sie fuhr meist voran, gutgelaunt Grüße verteilend; er hintenan, mit rotem Kopf, japsend, ohne Luft für Floskeln. Ein Vater auf Inlineskates schob seinen Kinderwagen über den asphaltierten Feldweg. Man begutachtete unsere Rucksäcke mit belustigten Blicken. Schon hier, wie noch so oft während der nächsten Tage, hielt man uns wohl für Pilger – was, wenn man das Wort zu seiner lateinischen Bedeutung zurückverfolgte, paradoxerweise genau unsere Absichten traf. Der Wanderer in der Fremde; nur war die Fremde in der Heimat zu suchen.
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Wir lassen Bahngleise und die letzten Einfamilienhäuser hinter uns. Irgendwann geht es bergauf, durch einen Parcours in den Wald hinein, über Wege, deren Sandstreu signalisiert, dass es zum Elbufer nicht mehr weit sein kann. Zweige zerbrechen einem unter den Schuhen. Ein Buzzard schwingt sich auf, von einem Ast in die Höhe. Soll ich sagen, er wirke „majestätisch“? Steht die Stereotypie der individuellen Erfahrung entgegen? Oder ist sie Geburtshelferin eines Kindes, das dann der eigenen Erziehung bedarf? Erlebnisse, tausendmal gehört, gelesen, bis nur noch schwache Umrisse, das Gerippe einer ursprünglichen Bewegtheit übrig geblieben sein können – die pastorale Freude des Städters in der ewig jungfräulichen Natur? Gibt es noch ein größeres Klischee? Kannst du die ganze Kette literarischer Beschreibungen zurückdenken, in eine prä-Thoreauianische Erfahrungswelt? Und doch glaube ich es zu spüren, für kurze Momente. Wie sich die eigenen Gehirnwellen auf ein gesünderes, kräftigeres Muster zurückschrauben: vom heftigen, nervösen Neuronen-Flackern im Angesicht der Großstadt zum stabileren Netz in der reizarmen Waldumwelt. Versuch da mal, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten: Geht mein Puls runter, weil ich es erwartete, draußen, in der kühlen Moosluft? Atme ich tiefer und gleichmäßiger, weil man das so tut, im Wald? Aber die Moosluft ist kühl, und ich atme tatsächlich anders, für eine Weile, und als mit einem Zischen in der Luft und dem metallischen Aufschlagen eines kleinen, weißen Balles an einem Zaun der Falkensteiner Golfplatz auftaucht, da verlasse ich schnell diese meditative Gedankenwelt, um hinter einem dünnen Birkenstamm Deckung zu suchen. Wer bezweifelt schließlich schon die Authentizität schwerer Kopfverletzungen durch harte, auf 200 Stundenkilometer beschleunigte Kunststoffbälle?
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„Und dann die Leute... So ein Mann Typ Swingerclub: Nackter Oberkörper, wirre Haare, roter Porsche. Überhaupt hoher Goldketten- und 911-Faktor da. Und eine Frau, mindestens 70, komplett in rosa, Gesicht inklusive, und ein völlig debiles Grinsen, dass du dich fragst, wo ist die denn gerade ausgebrochen? Total surreal, das alles neben alten Kapitänshäuschen. Blankenese ist nichts für mich.“ „Hast du das denn erwartet?“ „Natürlich nicht.“ „Solche Leute hast du doch überall. Malibu, Beverly Hills. Sogar Sylt. Erzähl lieber mal von eurer Überfahrt.“ „Du bist schnell in Cranz, die Fähre hat ordentlich Schub. Nicht wie die Speedboats, die die Elbe auf und ab jagen – Boote sind ja noch schlimmere Statussymbole als Autos da draußen, an so einem Tag. Aber doch ganz gut schnell... Und ein angenehmeres Publikum auf der Fähre.“ „Mehr wie ihr.“ „Ausflügler, Fahrradfahrer, Wanderer. Und ein junger Typ, der einer Frau erzählt, das Alte Land sei Hauptumschlagplatz für Drogen, da komme alles an vom Hafen, direkt in die Hände der türkischen Mafia.“ „Mmm.“ „Genau, ich denk auch, was für ein Vorurteil, und geb mir Mühe, den Typ böse anzugucken. Aber dann gehen wir von der Fähre herunter und durch den kleinen Ort, wo du an den Häuserfassaden noch den Wasserstand von '62 ablesen kannst, und die Apfel- und Birnenfelder liegen da, im roten Abendlicht, und was ist das erste, was hinter dem Deich zum Vorschein kommt?“ „Pfbbbrrrrr... Woher soll ich denn das...“ „Ein Türkischer Import/Export-Laden. Auf einem Autohof, auf dem fünf dicke Benz stehen. Mindestens fünf. Kinder laufen da durch die Gegend, spielen irgendetwas. Und an jeder Ecke sitzen ein paar türkische Männer, an kleinen Tischen.“ „Klar, alles Verbrecher.“ „Erst meine Empörung und dann dieses Bild.“ „Und? Resümee nach dem ersten Tag?“ „Der erste Sonnenbrand. Ein paar Blessuren an den Schultern, von den Rucksackgurten. Erste Blasen an den Füßen.“ „Und?“ „Und dass ich nicht nach Blankenese ziehen werde.“ „Mehr nicht?“
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Doch, da ist ein Bild, besonders dort draußen, auf den windgepeitschten Flächen des Alten Landes. Ein Bild, über das sich, wie eine verblichene, nachkolorierte Folie, ein zweites Bild legt: Der Turm in der Ferne, der Fixpunkt, um den man sich dreht – fast naturgesetzlich, in einer Umlaufbahn – und den man doch nie erreicht. Unser Großvater war genauso um Paris gewandert; die Stadt unter Belagerung von Hitlers Truppen, und er einer von ihnen, im Kriegssommer 1940. Immer wieder waren sie um Paris herum marschiert, um den Eiffelturm, der in der Ferne über der Stadt thronte. Der Turm muss für all das gestanden haben, was die grande dame für müde Soldaten an Vergnügungen bereit gehalten haben mag. Aber unser Großvater hat ihn nie erreicht, ist immer nur herum gegangen, in einem weiten Kreis, bis seine Division abkommandiert worden war, in den kalten russischen Winter. Er hat es nie ins Herz der Stadt geschafft, auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg nicht. Vielleicht hat ihn später irgendetwas, irgendeine Erinnerung abgehalten, ich weiß es nicht. Auf Nachfrage hätte er sicher behauptet, es sei ihm egal gewesen, die Stadt, die Versuchung des jungen Mannes: Das war mir dann wurscht... So kann man mit einer Handbewegung Träume verwerfen, auch wenn der Ton eher den kompromisslosen Umgang mit der Vergänglichkeit verrät, mit dem eine ganze Generation die kollektive Psychose der Kriegszeit therapiert hat. So unterschiedlich – dem fliegenden Spaghettimonster sei dank – so komplett konträr unsere Welt in diesem Sommer im Jahre 2009 ist, auch wir haben einen Turm in der Ferne, siebenhundert Kilometer nordöstlich von Paris, der höchste Punkt der Stadtsilhuette Hamburgs, neben den fünf Kirchtürmen, tagsüber blitzend in der Sonne, abends ein rot blinkender Gruß aus der Zukunft. Der Fernsehturm. Von jedem Ort entlang der Elbe ist er zu sehen. Wie eine ferne Warnung. Denn wo unser Großvater dorthin wollte, zum Turm, wollen wir eher weg. So weit wir als Grenzgänger nur können. Sicher, der Blick zurück macht klar, wie fern das alles ist: Stadt, Termine, Fristen, Aufgaben. Aber er wirkt auch wie ein Magnet, der deine Gedanken zurück ins Zentrum zieht, so wie diese merkwürdige Nygma-Box, mit welcher der Riddler in Joel Schumachers Machwerk Batman Forever die Gehirnströme der Menschen einfängt – grünlich über die Dächer der Stadt schießende Gedankenwellen. Du folgst diesem imaginären Strom, blickst von der Peripherie auf den Turm im Kern, dort, wo die eigentliche Stadt liegt, und bist froh, hier draußen zu sein, in sicherer Distanz zum Alltag, und doch noch in Hamburg – ja, auch dies noch Hamburg.
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Erst am Morgen des zweiten Tages verstanden wir, weshalb so viele der Häuser im Westen Hamburgs leer standen. Jugendstilvillen hatten wir gesehen, in Neuenfelde, auf der anderen Elbseite, während der letzten Stunde unseres ersten Tages, als wir auf einem gewundenen Deich zu unserer Nachtstätte stapften. Fast jede zweite von ihnen war ausgeräumt gewesen, verlassen. Über der kleinen Stadt eine fast gespenstische Ruhe – kein Mensch auf der Straße, kein Gesicht in Häuserfenstern, nicht einmal Autos in den schmalen, vom Rotlicht der Abendsonne erwärmten Gassen. Dass gerade dieser Eindruck von Ruhe der größte Irrtum gewesen war, wurde uns schlagartig klar, senkrecht im Hotelbett, irgendwann bei Sonnenaufgang. Eben noch hatten wir in Thermalquellen gesessen, oder auf weichen, duftenden Wiesen, in Welten, wo schmerzende Glieder nicht existierten. Dann stürzte ein massiver Raubvogel vom Himmel – nein, ein Jagdflugzeug von Zeppelin-Größe oder etwas Ähnliches wälzte sich durch Luftschichten, durchschnitt mit dem Kreischen einer Kreissäge den halbblauen Morgenhimmel, ließ den zusammengekauerten Ort unter sich erzittern, und auch wir saßen abrupt auf, in diesen ersten Sekunden nach dem Erwachen, wenn die Trennlinie zwischen den Welten noch durchlässig ist. Doch dann das vertraute Vibrieren der Fensterscheiben, und das dumpfe Unterwasser-Dröhnen von Flugzeugen im Sinkflug, und wir erinnerten das Gelände von Airbus, das wir am Abend zuvor gesehen hatten, zwischen Deich und Elbufer: Werkhallen von der Größe ganzer Häuserblocks, bunt beleuchtet wie die Straßen in Blade Runner. Wer wollte schon jeden Morgen so geweckt werden? Auch die Mehrzahl der Gäste beim Frühstück waren Geschäftsleute, die in der einen oder anderen Weise mit Airbus zu tun hatten – so schien es uns zumindest, mangels anderer Erklärungsansätze, weshalb sich ein halbes Dutzend Mittfünfziger in Anzügen in einem Kaff hinterm Deich herumtrieben. Man las Zeitung und kommentierte den Sieg des HSV über Meister Wolfsburg. Die Sonne lag schon warm auf dem Fensterbrett von Bundt's Gartenrestaurant, und wir brachen auf zu unserer längsten Strecke, einmal aus dem Westen der Stadt ganz hinüber in den Osten. Eine Weile wanderten wir auf dem Deich, entlang der geometrisch geordneten Obstfelder. Eine Gruppe von türkischen Kindern lief von einem Pflaumenbaum zum nächsten. Die Mädchen hielten ihre kleinen Brüder in die Höhe, in die dichten Baumkronen, füllten ihre Körbe anschließend mit den herab geworfenen Früchten. Und im Blick über die Elbe und die staksigen Kräne des Freihafens war auch er wieder auszumachen: der Fernsehturm, ferner Begleiter, Beobachter, Wächter. Gegen Mittag nahmen wir einen Bus von Neugraben in die Harburger Berge, bis zur Endhaltestelle Waldfrieden. Ein Erwartungen weckender Name. Die Sonne goss sich in warmen Pfützen über einen Waldboden, der noch feucht war von fünf Tage zurückliegenden Unwettern. Endlich, nach Straße und Asphalt, wieder Erde und Gras: eine willkommene, weiche Abwechslung, ein Labsal für unsere Füße. Und so – die Luft noch kühl, der Wald in der Tat friedlich – kamen wir schnell voran. Einen Stein mit römischen Jahreszahlen beschlossen wir, als Grenzstein zu interpretieren. Die Karte wies tatsächlich aus, das Ende der Stadt befände sich irgendwo nahe unserem Fund, und so gingen wir voran, ins Land der Niedersachsen, im Osten um den Wildpark Schwarze Berge herum.
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„Ich glaub, die Leute können gar nichts damit anfangen, dass da einer durch den Wald hinter ihrem Haus läuft.“ „Klar, da ist ja auch niemals irgendjemand, der seine Hunde ausführt. Geschweige denn, dass man da jemals Jogger sieht, oder Mountainbiker, oder...“ „Doch, natürlich. Aber ich meine Wanderer mit Rucksäcken. Urlauber. Die erwarten einfach keine Leute, die da Urlaub machen. Zumal noch in der eigenen Stadt.“ „Dass wissen die ja aber nicht.“ „Eigentlich mal eine interessante Frage: Wie paradox ist unser Unterfangen eigentlich? Ist so etwas wie Urlaub in der eigenen Stadt nicht schon per Definition ausgeschlossen?“ „Weil Urlaub das Andere ist, und nur in der Fremde möglich?“ „Genau.“ „Aber ist Urlaub nicht auch eine Frage der Einstellung, etwas Inneres?“ „Dann eher eine Frage der Ausstellung, oder? Alles nämlich auszustellen, zuallererst das Handy.“ „Haha. Klar, das holt einen natürlich zurück.“ „Wenn das eine Bedingung für Urlaub ist, dann macht ja kaum einer jemals welchen.“ „Wieso?“ „Na, es ist ja nicht schwer, sich die Unruhe auszumalen, die die Leute überkommt, wenn sie mal ihr Handy oder ihr Internet nicht haben, oder? Gibt doch kaum noch Leute, die nicht auch im Urlaub Mails checken.“ „Stimmt.“ „Achtung, jetzt wird’s hochanalytisch. Das hat nämlich was damit zu tun, sich selbst ins Bewusstsein zu kriegen. Als Selbst. Nicht als Pilot, zum Beispiel, auf dem Weg zum nächsten Flug, nicht als Geschäftsmann, der sich Gedanken macht, ob der Kurs für Kupfer gefallen ist, nicht als Anwalt, der hinter Aktenbergen verschwindet. Als Selbst. Als ein Ich. Nicht von irgendeinem Zweck, von irgendeiner täglichen Tätigkeit verschluckt: E-Mails checken, oder telefonieren, delegieren, funktionieren.“ „Wenn du so hoch greifst – Geschäftsmann, Anwalt: Das sind Entscheidungsträger. Die können sich das gar nicht leisten, aus den Abläufen herauszufallen.“ „Das geht nicht ums Leisten – die können es gar nicht. Weil dann nichts übrig bleibt. Die können das System nicht abschalten, weil sie das System sind. Und darunter ist nichts mehr.“ „Ist das jetzt Kulturkritik oder pessimistische Metaphysik?“ „...“ „Ich glaub, so wie du das meinst, kriegt man sich nie ins Bewusstsein. Auch im Urlaub nicht. Du schaust doch immer auf dich als etwas. Sei es als Mensch. Oder als Urlauber. Oder als jemand, der sich nicht als etwas betrachten will... Sieh das mal so: Wir werden, wer sind sind, durch das, was wir tun.“ „Ich frag mich halt: Hinter dem Rausch der Arbeit, ganz weit dahinter, liegt da irgendwo eine... friedliche Nüchternheit? Bei der man sich nicht mehr von sich und all dem, was um einen herum passiert, ablenken muss?“ „Huiii... friedliche Nüchternheit? Keine Ahnung.“ „Ich auch nicht.“ „Einigen wir uns einfach darauf, dass es im Urlaub von Vorteil sein kann, das Handy auszulassen.“ „Und das Internet.“ „Und das Internet. Eh das gleiche.“
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Der Wind kam von Osten, fuhr durch die Felder zu unserer Linken, schnaubte, schnitt Schneisen, warf Ähren beiseite. Ein Föhn, den wir im Frieden des Waldes nicht bemerkt hatten. Hier draußen aber, über den bloß gelegten Feldern, regierte er, ganz eindeutig – zerzauste uns unwirsch das Haar, tanzte übermütig von Wipfel zu Wipfel, ließ Spelzen von Baumkronen herabregnen und fegte uns Pollen entgegen. Die Mittagssonne brannte heiß auf der Haut und das Spelzen-Inferno nahm einem die Luft zum Atmen. Schnell bahnten wir uns einen Weg zurück in den kühlen Staatsforst. Anders als am Tag zuvor fehlte heute der Blick in die Weite. Alles, was die Aufmerksamkeit auf sich zog, war in Reichweite: der wuchernde Farn am Wegesrand, hinaufschießende Baumstämme, schummrig beschienenes Gras. Die Stadtgrenze mussten wir uns denken – irgendwo auf einem der steilen Abhänge der Harburger Berge, im weichen Untergrund zwischen zwei geschälten Bäumen. Aber anders als am Tag zuvor begleitete uns auch eine Stille, die wir beim Wandern kaum zu durchbrechen wagten, jeder ein wenig mehr bei sich selbst als bei der Gruppe. Im Wald, wo der Grundpegel an Geräuschen viel niedriger ist als in der Stadt, nimmt man seine eigenen Äußerungen so verstärkt wahr wie jemand, der sich die Ohren zuhält und nur mit dem Innenohr hört. Alles bekommt eine Direktheit, der gegenüber man verstummt und lieber der rauschenden Ruhe lauscht. Erst nach einer Weile, je näher wir dem Ausgang des Staatsforsts kamen, bohrten sich wieder fremde Geräusche in unser Bewusstsein: der zischende, vierspurige Nachmittagsverkehr der Autobahn 7, die wir auf einer Brücke bei Eißendorf überquerten. Hätte es uns ein gelbes Stadtschild am Ende der Brücke nicht angezeigt, wir hätten es bald auch so gemerkt – anhand der Reihenhaussiedlungen und Supermärkte, anhand des Streits zwischen einem jungen Türken und einem bornierten Busfahrer, der sich weigerte, bei über 30 Grad im Schatten die Klimaanlage anzustellen: Ja, dies war wieder Hamburg. Doch dann – nach einer kurzen Busfahrt über Harburg, hinaus und zurück an die Elbe – gewannen wir wieder Distanz zum hitzigen Stadtkern. Dort draußen, kurz vor Bullenhausen, konnte der Blick wieder in die Ferne schweifen. Dort konnte man wieder durchatmen, und auch der Sichtkontakt zum Fernsehturm war wieder hergestellt, über Marschland und Bäume hinweg, vorbei an Kränen und Kirchtürmen. Dort draußen fühlten wir wieder, die Stadt zu umrunden. Die Grenze floss nun entlang, auf der gekräuselten Elboberfläche. Ein kühler Wind schob uns sanft auf dem Deich voran. Wir passierten Schafsherden, manche im Schatten von Bäumen, andere auf Steinen, nahe des Flussufers, wieder andere auf verblichenen Wiesen, der gnadenlosen Sonne ausgeliefert. Um dieser für eine Weile zu entkommen, machten wir Pause in der Strandhalle – einem schattigen Café am Elbufer, versteckt in einer bunten Kleingartenkolonie, in dem wir das Durchschnittsalter der Anwesenden für eine halbe Stunde beträchtlich hoben. Gestärkt durch Kaffee und Kuchen ging es weiter auf dem Deich, entlang der Unterelbe, an diesem hellen, herrlichen August-Nachmittag. Die Muskeln sangen ein Klagelied, zum Rhythmus unserer schweren Schritte, aber die Sicht trug voran: die Sicht auf die Stadt in der Ferne, auf die vorbeiziehenden tschechischen Frachter, auf die Fähre vor uns, bei Hoopte, unserem Ziel, und hinüber zum Zollenspieker – wieder zurück nach Hamburg, nachdem wir uns den ganzen Tag um die Stadtgrenze herum geschlängelt hatten.
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Dass der Sommer einen Geschmack hat, wissen wir spätestens seit einem nervtötenden Werbeclip der Neunziger, dessen Ohrwurmmelodie damals jede Kinovorstellung einläutete. Dass der Sommer aber auch einen Geruch hat, ist vielleicht noch nicht so sehr Allgemeingut. Für manche mag er nach dem Salz der See riechen, oder nach Sand und Sonnencreme. Andere meinen vielleicht, er rieche nach würziger Bergluft, und wieder ganz andere, nach süßlichem Sangria. Für mich riecht der Sommer nach Holz – trockenem, harzigem Holz. So hat jedes der vielen dänischen Ferienhäuser gerochen, in denen wir während meiner Kindheit und Jugend die Sommerferien verbracht haben. Und da ja, den allerneuesten, revolutionärsten Erkenntnissen aus den Geruchs-Labors zufolge, unser olfaktorischer Sinn das Wohlbefinden steuert wie kein anderer, ist es natürlich kein Wunder, dass ich mich im Zollenspieker Fährhaus sofort wohl fühle – denn in diesem großen, weißen, direkt am Wasser liegenden Gebäude riecht es nach dänischem Sommer-Holz. Besonders in der Suite mit hohen Balken und abgesenkter Sitzecke, die wir beziehen. Ich liege auf einer rauen Bettdecke und meine zu spüren, wie sich die Gehirnwellen, angeregt durch solche Erinnerungsmuster, in Urlaubsstimmung bringen. Sie haben mir da was voraus. Die Schuhe habe ich noch nicht ausgezogen; zu matt sind die Glieder nach geschätzten 100 Kilometern zurückgelegter Strecke. Mein Bruder korrigiert die Längenangabe erheblich nach unten; mein Körper bleibt skeptisch. Die Stadt, deren Größe ich unterschätzt habe wie zuletzt den Schwierigkeitsgrad nicht bestandener Mathearbeiten, ist durch ein kleines Fenster sichtbar, wenn auch weit weg. Die Müdigkeit lässt sie einen vergessen. Nach Harburg und all der Großstadtaggression heute: ein Glück. Mein leerer Magen stellt sich als bestes Argument dafür heraus, sich noch einmal aufzuraffen. Auf einem Steg, direkt am Ufer der Süderelbe, das dämmrige Marschland in Sichtweite, genießen wir ein Abendbrot, lauschen dem Aufschlagen vertäuter Segelboote auf der Brandung – alle etwas stiller als sonst, und dennoch glühend, aufgekratzt von Sonne und Bewegung – und erinnern uns, dass Wandern noch der beste Koch ist: ein fordernder, herrischer, oft gnadenloser, und doch zuletzt großherziger, großartiger Gourmet.
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Die Sonne stand morgens um Fünf rot über der Elbbiegung, streichelte sanft die Maste der Segelboote. Ein einzelner Vogel schwebte darüber – ein glühender Fleck, um den das Morgenfeuer leckte. Erst im Umwenden, im Bruch der Sonnenreflexion, erwies er sich als träge flatterndes Tier. Auf dem schläfrigen Wasser lag ein Schimmer, als hätte jemand einen überdimensionalen Tuschkasten ausgewaschen: kräftig drangen die Farben vom Ufer in die Bucht, um dort auszudünnen und vom einströmenden blauen Flusswasser überwältigt zu werden – ein Aquarell auf der Elboberfläche, flüchtig, sich nur dem früh erwachenden Wanderer erschließend, für den Rest der bewusstlosen Welt ein ferner Traum, vergessen im Moment des Erwachens. Im Blick auf die Bergedorfer Lokalzeitung beim Frühstück jedoch bekam dieser idyllische Schein eine grelle Note, erinnerte an die Marsianische Farbgebung apokalyptischer Zukunftsvisionen, in denen die Erde von nuklearem Fallout verseucht war, die Menschheit mutiert, die Natur nur noch ein kränklicher Abglanz ihrer einstigen Pracht. In diesem plötzlich hell-frostigen Licht lasen wir: Bei einem Unfall im nahen AKW Krümmel blieben Hamburg ungefähr anderthalb Stunden für eine Evakuierung, bis die Atomwolke die Stadt erreiche. Für eine Weile – die Gedanken noch halb verschmolzen mit unseren Träumen, sich unmerklich lösend wie der Tag von der Nacht – sahen wir Männer in schwarzen Atemschutzmasken die Stromschwellen überqueren, ein futuristisches Kommando, dort, wo seit über tausend Jahren ein Fährmann die Fahrgäste von Ufer zu Ufer trägt, im gemütlich wiederkehrenden, und doch offenbar so fragilen Zyklus der Wellen. Es gab keinen Bus, der uns vom Südosten Hamburgs an die Grenze zu Ahrensburg gebracht hätte. Zum Wandern der gesamten Strecke aber, durch die Vierlande und Reinbek in den Norden, fehlte uns nach dem gestrigen Marsch die Kraft – das war unausgesprochener Konsens. Also blieb nichts anderes als zu kapitulieren und für eine kurze Weile in die Stadt zurückzukehren, im Pendlerbus, am Morgen mit jungen Frauen aus den Randbezirken vollbesetzt. In zügiger Fahrt der Stadtgrenze entlang, diesmal auf der Hamburger Seite, passierten wir leere Campingplätze und Surfschulen, seltsam irreal wirkende Versprechen von Freizeitkultur unter einem mittlerweile grauen Himmel, der sich immer mehr verdüsterte, je näher wir dem Stadtkern kamen.
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„Keine Ahnung, wer dann die glorreiche Idee hatte, da auszusteigen. Vielleicht ich sogar. Ja, ich glaube, ich hab so was gesagt wie: Mit der S-Bahn sind es nur zwei Stationen bis zum Hauptbahnhof.“ „Also seid ihr raus aus dem Bus und rein in die...“ „...Bahn? Ja, soweit der Plan. Aber die S-Bahn Linie war tot. Stattdessen: Schienenersatzverkehr. Das war sowieso das Thema des Tages.“ „Wieso? Kam da noch mehr?“ „Ja, warte erstmal. Wir sind dann zu Fuß weiter, durch Tiefstack – keine Ahnung, wann der nächste Bus kommen sollte. Mit unseren Rucksäcken und Wanderschuhen durch diese Industriewüste. Der Himmel passte plötzlich ausgezeichnet zum Stadtbild: Abschleppunternehmen, schmierige Hallen, Gebrauchtwagenhändler, Schrottplätze. Eine russische Firma – wenn ich die Schriftzeichen richtig gelesen hab, verkaufen die Ersatzteile für Omnibusse. Alles so rußig, als ob das große Vattenfall-Kraftwerk im Hintergrund mit seinen Schloten die Umgebung mit einem grauen Schleier überzogen hätte.“ „Uh, Dramatik! Nach Tiefstack ziehst du wohl auch nicht.“ „Die Leute da – ein knapp volljähriges Mädchen zum Beispiel, die ihrer Mutterliebe Ausdruck verleiht, indem sie Kette raucht und ihr Kind anfaucht – grau wie der Himmel, grau wie die Fassaden der Häuser. Grau, grau, grau.“ „Mann bist du schlecht drauf.“ „Gar nicht. Ich musste nur schnell weg da. Und dann, im zweiten Bus, ging es ja so weiter. Miesepetrige Mienen, keiner guckt sich an. Menschen auf dem Weg zur Arbeit, die Schotten dicht. Man ist ja auch unheimlich aufnahmebereit mit diesen Pfropfen im Ohr. Und die Gesichter sagen nur: Lass mich in Ruhe.“ „Das sind immerhin Leute mit einem Job, einer Wohnung, Krankenversicherung und so weiter. Ich spar dir jetzt die geläufigen Vergleiche. Kennst du ja sowieso. Überhaupt, dieser Dogmatismus wieder. Da waren wir doch schon mal. Das hast du alles nur so gesehen, weil du wieder in die Stadt zurückgekehrt bist. Im Rückblick auf die Freiheit außerhalb der Stadt – nah und fern. Hast du doch selber gesagt.“ „In weiter Ferne, so nah! In naher Ferne, so weit!“ „Hast du selber gesagt.“ „Ja, o. k. Die Stadt war schon der erwartete Flashback. Der Puls geht auf einmal wieder schneller. Dieses Gewusel am Hauptbahnhof. Die Gestressten überall.“ „Wer eine Reise tut, der muss auch mal zurückkehren. Erst dann sieht er Veränderungen ja überhaupt. Die Rückkehr öffnet erst die Augen für das, was du neu kennen gelernt hast. Die... wie hast du gesagt? ... nahe Ferne da draußen – das ist ja auch noch Hamburg. Je deprimierender, je härter das Zurückkommen, desto mehr wird doch das Neue da draußen betont. Das gar nicht so weit weg ist, und doch fern genug. Wie diese Plätze wirklich sind, siehst du erst im Rückblick. So wie du erst verstehst, wie dich eine Frau verändert hat, wenn sie weg ist – wenn du nicht mehr eingesponnen bist in ihr Netz, nicht mehr verzaubert.“ „Mich hat das alles halt einfach angekotzt.“ „Klar. Aber jetzt weisst du, dass es diese Plätze gibt. Irgendwo. In naher Ferne.“
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Der Höltigbaum, im äußersten Osten Hamburgs, ist ein ehemaliger Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Betonierte Straßen durchziehen das heute ungehemmt wachsende Naturschutzgebiet – graue Adern, die uns hinein trugen in diesen grünen Organismus, am Nachmittag unseres dritten Tages. Von ihrer militärischen Gradlinigkeit und ihrem harten Belag schon bald ermüdet, bogen wir ab, querfeldein, in einen Waldpfad, der Stadtgrenze zu. Auch hier musste man sie sich wieder denken – verlief sie entlang des Zauns, dort, auf dem Hügel? Sah es nicht so aus, auf der Karte? Mit Erleichterung stellte sich das Gefühl ein, zum Thema zurückzukehren, zur Umrundung der Stadt, nach der erzwungenen Verirrung des Vormittags, der Variation unseres Leitmotivs. Gatter, windschief als wären sie gewachsene Teile der lila und blau wuchernden Dänenheide, umgrenzten die Felder, mussten immer wieder durchschritten werden auf unserem Weg vorbei an Kühen und Schafen, die vor der dichten, schweren Luft unter Baumgruppen geflüchtet waren. Es war schwül, die Atmosphäre gespannt. Ein Gewitter drohte auf diesen weiten Flächen zur unerfreulichen Überraschung zu werden, und wir beschleunigten die Schritte – froh, wieder zu wandern, dem Stadtkern, ja, sogar dem Blick des Fernsehturms mit seinen Alltagsversprechen entkommen zu sein. Hier draußen war er nicht zu sehen. Auch wenn er nah genug gewesen wäre, um ihn mit bloßem Auge zu erspähen, die reine Luftlinie zählte hier nicht – zu hügelig, zu waldumwachsen war die Gegend. Und doch rief uns ein entfernter Verwandter seine Existenz ins Gedächtnis: ein Funkturm surrte vor sich hin, als wir vorbeizogen, unsere Hemden eine zweite, klebrige Haut. Mit seinem Moskitosummen war der Turm wie ein phallisches, blinkendes, in den bewölkten Himmel ragendes Instrument, zum Schwingen gebracht von den Ladungen der elektrifizierten Luftschichten. Und im hypnotischen Gang, halb niedergedrückt von der Schwüle und dem Gewicht der Rucksäcke, schien es uns, als mischte sich in seinen Ton das Hochfrequenzecho von Fledermäusen, um uns herum, in den Wipfeln der Bäume. Die Regentropfen, die bald dick und kühl vom Himmel fielen, waren so nicht nur ein weiteres Signal, die Schritte noch einmal zu beschleunigen, um in die nahen Baumregionen zu flüchten, sondern ließen uns auch schaudern und verschreckten fiebrige Halluzinationen wie eine kalte Dusche die Albträume der Nacht. Über einen von aufgereihten Zweigen begrenzten Weg kamen wir schließlich auf eine Hundepension zu, direkt an der Bahnstrecke nach Ahrensburg. An einem unbemannten Übergang, an dem nur eine schmale Schranke Übermütige von suizidalen Überquerungsversuchen abhielt, stand ein Lautsprecher, versehen mit dem Hinweisschild, man könne die Schranke per Zuruf öffnen. Wer kann sich da schon ein „Sesam öffne dich“ verkneifen? Wir nicht, auch auf die Gefahr hin, dass uns ein genervter Schrankenwart irgendwo in einer stickigen Schaltzentrale ignoriert hätte: Schon wieder solche Spaßvögel! Und es geschah – die Losungsformel wirkte, das Hindernis hob sich, und entließ uns aus dem Zauberwald in die lautstarke Realität der Bundesstraße 75, wo ein Stadtschild unsere Route als wohl gewählt auswies: Hamburg, stand dort, und wir überquerten die Straße, hinein in einen Bruchwald aus Buchen und Erlen, zurück entlang der Grenze, die hier ein Fluss war, die Moorbek.
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Der Weiher liegt da, bewegungslos, sedimentiert, umrahmt von einem Kranz an Blattwerk, in dessen Grün sich die Morgensonne mit dem Chlorophyll zu feucht glänzenden Farbexplosionen mischt. Die Blätter, herabhängende Zweige, der Farn, das Schilf – alles verliert in diesem Licht klare Konturen, verschwimmt zu Farbflecken, die wie auf die verspiegelte Oberfläche des Sees getupft wirken. Dieses Grün blendet, lässt mich die Augen zusammenkneifen. Doch es dringt noch durch die geschlossenen Lider, färbt mein inneres Sichtfeld grün, während Sonnenstrahlen sich offenbar durch die Schatten tasten, unbemerkt die Uferkante hinauf, bis sie meine Arme und Beine erreichen, plötzlich wärmende Fingerspitzen auf bloßer Haut. Eine allmähliche, fast scheue, doch letztendlich vereinnahmende Annäherung. So wie es den Weiher umarmt, so ergreift das Licht auch den Wanderer, der sich zur frühen Rast am Ufer niedergelassen hat – gerne verführt von diesem transparenten Gruß, dieser harmlosen, morgendlichen Affäre. Ich lehne mich zurück, lasse die Wärme sich auf meinem Körper zerstreuen, öffne schließlich die Augen. Ein kleiner Fleck schält sich aus dem Stillleben heraus, gewinnt Prägnanz vor dem braunen Hintergrund älterer Blätter. Ein Laubfrosch, Herr über dieses Szenario. Er springt auf meine nackten Füße zu, schnellt an einem unsichtbaren Gummiband heran, und ich halte still, um ihn nicht zu verschrecken. Für einen Moment ist es befriedigend, sich dem albernen Gedanken hinzugeben, er beobachte mich ebenso wie ich ihn. Wir sind wieder früh aufgebrochen, an diesem, unserem letzten Wandertag, der uns durch Rodenbeker und Bredenbeker Quellental nach Poppenbüttel führen soll. Beschützt unter einem Blätterdach waren wir der Stadtgrenze durch das Stellmoor gefolgt, am gestrigen Nachmittag, der mit Regen auch ein Ende der Gewitterluft gebracht hatte, ohne seine Drohung je wahr zu machen. Als es dämmerte, beschlossen wir, nach Westen zu wandern, heraus aus dem Moor, um die Bahn von Buckhorn nach Ohlstedt zu nehmen. Doch der Spätsommer ist die Zeit der Bauarbeiten: Wie am Morgen verwies uns ein Schild auf die Busse des Schienenersatzverkehrs. Ohlstedt, am nördlichen Rand Hamburgs, schien bereits nicht mehr Teil der Stadt zu sein. Das Landhaus, in dem wir schließlich eintrafen, war gutbürgerlich und versuchte, seine junge Vergangenheit durch schweres, altertümelndes Interieur zu überspielen. Ein einziger Einheimischer stand am Abend nahe der Unterkunft – ein gelangweilter Typ in einem Cord-Sakko, die Zigarette achtlos bis auf den Filter heruntergebrannt – und lachte ob unserer Frage nach einem Dorfkern. Nach seiner detaillierten Kosten-Nutzen-Analyse aller drei in Ohlstedt ansässigen Gaststätten entschieden wir uns für den Wanderer – nicht zuletzt wegen der thematischen Affinität. Auf einer Bank vor der Kneipe, bei Broten und Bier, genossen wir die dörfliche Ruhe dieses Samstagabends. Nur Flugzeuge, die Urlauber zurückbrachten, weit über uns am dunklen Himmel, verrieten hier draußen noch die Nähe der Stadt. Tatsächlich, von der Stadtgrenze ist seitdem nicht mehr die Rede, sie verläuft weiter nördlich. Aber etwas anderes hat die Orientierung an ihr ersetzt, für mich zumindest – die Suche nach der Grenze zum Klischee, nach der unmöglichen Möglichkeit, sich in ihm wohl zu fühlen; es zu bezwingen, indem man es verführt, anlockt, und dann in wohliger Selbstaufgabe neutralisiert – so wie ich mich der Morgensonne hingebe, hier, am Weiher. Wie viele vor mir haben das getan? Wie viele nach mir werden es tun? Steht die Stereotypie der individuellen Erfahrung entgegen? Oder ist sie Geburtshelferin, eröffnet überhaupt erst den Rahmen für eigene Untersuchungen? Warum muss das alles in Anführungszeichen stehen: ich, Kopfmensch, draußen, glücklich in der romantischen Naturbegegnung? Ist nicht schon die bloße Idee der Unmittelbarkeit verfehlt? Und wenn das wahr ist – warum dann nicht der Griff zur Brille des Pathos, dieser speckigen, abgegriffenen Hornbrille, die überhaupt erst in den Fokus rückt, was sonst unsichtbar geblieben wäre? Was geht verloren, für immer übersehen, wenn wir sie nicht aufsetzen? Doch wie viele Gedanken der letzten Tage – über die Blankeneser High Society, die grauen Pendler der Elbvororte – würden im Blick mit dieser Brille zu hilflosen Abgrenzungsversuchen? Kann ich das wirklich wollen? Das Land hinter der Grenze zum Klischee ist ein einsames, und Selbstzweifel sein hoher Wegzoll. Nur im ständigen Sprung kann ich dort existieren, mal diesseits, mal jenseits seines Einflussbereiches – auch dort ein Grenzgänger. Und so werden wir gleich weiterziehen, unser kleiner Dreiertrupp, den Pilgerweg entlang, durch das brütende Koppelland, durch Waldstücke und über Lichtungen, zum Sprudeln der Alster, zum Gesang der Vögel, zum säuselnden Windhauch, und ich werde all das immer wieder belächeln – und mehr als alles andere meinen Platz darin: der Städter in der Natur – nur um es im nächsten Augenblick zu bestaunen, immer dann ergriffen, wenn mein Bruder oder mein Vater auch darauf schauen, in gemeinsamer Anschauung und gegenseitiger Versicherung. Die Sonne streicht über mein Gesicht wie um mich zu beruhigen. Der Laubfrosch scheint mich anzublicken. Und am anderen Ufer des Weihers, wie in einer Prüfung meiner Gedanken, schwingt sich ein Buzzard von einem Zweig herab, gleitet nah ans Wasser heran, und ich schaue auf ihn, doch sehe nicht ihn, sondern den anderen Buzzard aus dem Wald bei Falkenstein, vor zwei Tagen, und mehr noch als diesen sehe ich Bilder, die sich in meiner Anschauung über das Tier legen. Aber dann wendet sich der Buzzard zur Seite und steigt auf, über den Blätterkranz hinaus, und in der Bewegung, in der Reflexion des Morgenlichts auf seinen glatten Federn, blitzt plötzlich etwas durch das Konvolut an Vorstellungen etwas Anderes, Neues, und in mir wächst eine Ahnung von Stärke und Kraft und Passung in das, was größer ist als alles andere, was schon immer da gewesen zu sein scheint, und in diesem Moment bewundere ich das gedankenlose, mächtige Tier. Wie soll ich ihn sehen, diesen Buzzard? Wie ihn erkennen? Wie? Es gibt diese Plätze, hier draußen, in naher Ferne, wo man sich solche Fragen stellen kann, die im Alltag so eindeutig entschieden scheinen, und ich werde wiederkommen, denn entschieden ist hier draußen nichts. Nur die Notwendigkeit der Suche.
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