Wider Vereinigung
Wer nicht ins Detail gehen möchte, hat meist noch Wichtigeres zu sagen – und will vor allem seine Zuhörer schonen. Die Sache ist eigentlich schon klar, man möchte nicht pedantisch sein, also geht es weiter. Wer allerdings einen Lexikonartikel zu einem Buch liest und dann dieses selbst, wird vermutlich merken, dass das Zweite im Ersten nicht richtig aufgeht. Es ist der ganze quantitative Reichtum, der sich nur schwer konzeptualisieren lässt. Liegt das daran, dass die vielen Details keinen sie wirklich würdigenden Repräsentanten gefunden haben? Dass vielleicht gar nicht klar ist, wie die vielen Einzelheiten zueinander stehen? Dass das Verhältnis von Teil und Ganzem nicht selbst schon im Ganzen formalisiert wird?
Und in der Bildenden Kunst? Setzt sich ein Bild aus vielen kleinen Teilen zusammen? Oder wird das Bild mit einem Blick erfasst? Daniel Arasse wirbt in seinem anregenden Buch über das Detail für eine „Nahgeschichte“ der Malerei. Weniger, um den Betrachter darüber zu informieren, wie der Maler es eigentlich gemeint hat, nachdem alle maßgebenden Details studiert wurden. Vielmehr geht es Arasse um die Einführung einer Irritation, die mit der Betrachtung eines oder mehrerer Details Einzug hält und auch nach dessen oder deren Betrachtung nicht aus dem Weg geräumt wird. Im Gegenteil. Das Detail scheint ein Platzhalter für Offenheit zu sein. Insofern erwartet den Leser keine Geschichte des Details in der abendländischen Malerei.
Der Autor wählt einen funktionalistischen Ansatz: Welche Rolle hat das Detail gespielt in der Rezeption der Werke, aber auch in der Produktion der Werke selbst. Eine erste Irritation, noch vor der Beschreibung der Bilder, erfährt der Leser durch die Aufspaltung des Wortes „Detail“ in zwei Komponenten, die nur schwer in eine stabile (für alle gleichermaßen nachvollziehbare) Beziehung zu bringen sind. Die italienische Sprache unterscheidet zwischen einerseits dem particolare, andererseits dem dettaglio. Ersteres ist ein kleines Teil einer Figur, eines Objekts oder eines Ensembles. In diesem Sinne kann man sagen, dass eine Einheit wie ein Gesicht sich aus den verschiedenen Partien wie Nase, Mund und Augen zusammensetzt. Das dettaglio dagegen setzt eine aktive Haltung des Malers oder des Betrachters voraus. Hier kann praktisch alles zum Detail werden, insofern es als solches vom jeweiligen Produzenten oder Rezipienten „ausgeschnitten“ wird und einen Zuschnitt erfährt, der möglicherweise nicht übertragbar ist. Diese Art von Detail wird also nicht einfach nur registriert und zu einer bestimmten Menge hinzuaddiert. Dieses Detail widersetzt sich vielmehr einer bequemen Integration in eine höhere Klasse, die es zum Teil ausmachen würde. Es sprengt vielmehr jede Einheit, die man vorschnell jedem Werk zugrundelegt.
Daniel Arasse betreibt im besten Sinn eine Schule des Sehens. Dabei geht er nicht naiv an die Bilder heran, sondern verortet sie in ihrer jeweiligen Zeit und deren jeweiligem „Konzept“ des Machens von Bildern. Keine Epoche der Kunstgeschichte ist unmittelbar zum Sehen des heutigen Betrachters. Wann hat man zum Beispiel mehr Wert auf die „ikonische“ Vollständigkeit der Dinge gelegt und wann mehr Interesse gehabt an der „piktoralen“ Lust am Malen selbst? Hat es in der Malerei – wie später in der Fotografie – eine Kritik an der Protuberanz des Details gegeben? In der klassischen Zeit der Malerei hatte sich das Detail als würdig zu erweisen, um im Ganzen zu erscheinen, das es ja gerade mit seinen mehr oder weniger zahlreichen „Teilnehmern“ allererst bildete. Der Einsatz des Details erfolgt taktisch, zum höheren Ruhm des Ganzen.
(Daniel Arasse nennt dieses Vorgehen „die klassische Dialektik des Details der Malerei“, insofern die „Maschine des Bildes“ über die bloße „Mechanik der Malerei“ hinausgeht: Das Detail sei wichtig, um den Gesamteffekt zu erzielen, aber das Auge dürfe nicht auf dem Detail ruhen, denn dann würde man dem Maler bloß hinter die Karten schauen: Das Detail gäbe dann die „Maschinerie“ zu sehen, die die „Maschine“ funktionieren lässt, anders gesagt, die „Repräsentation“ verschwände hinter der Sichtbarmachung der „Operation der Repräsentation“ Der Connaisseur allerdings richtet sich bequem in dieser Dialektik ein: Er erkennt – und genießt.)
Aber wie, wenn das bloß „Ikonische“ (also das platt Abbildhafte) hineingerät in den Wirbel der Materialität des Malens? Wenn es, das Ikonische, sich eben dadurch mehr oder weniger verflüchtigt? Auf jeden Fall kein neutraler Beiträger einer scheinbar mühelos zu erzielenden Einheit sein möchte. Es sind solche Fragen, denen Daniel Arasse in mitunter minutiösen Bildstudien nachgeht und die den Betrachter, um ein Beispiel zu geben, eben nicht nur den titelgebenden „Riegel“ eines Bildes von Fragonard betrachten lässt, sondern auch das „schon“ sonderbar aufgewühlte Bett, das doch erst durch die Aktion des Riegelvorschiebens in Unordnung gebracht werden sollte.
Es sind also keine Interpretationen, die Arasse vorlegt. Nicht selten stützen sich seine Überlegungen auf solche Interpretationen, um sie durch seine Interventionen hinter sich zu lassen. Arasse, das ist das äußerst Sympathische an diesem Buch, will nicht klüger sein als die Maler. Dass der Leser auch nicht dümmer abziehen muss, dafür sorgt der Autor mit seinem stupenden Wissen und seinen erstaunlichen Verweisen. Dieser Durchgang durch das „Detail“ lohnt. Der einzige Nachteil, und zwar der Taschenbuchausgabe, und das ist schon ziemlich finster: Die meisten Details lassen sich bei diesen schlechten Reproduktionen nicht oder nur schwer erkennen.
Dieter Wenk (04-10)
Daniel Arasse, Le Détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture, 1992 (1996 Flammarion)