9. November 2003

Selbstüberlistungen

 

Das Postfernflugwesen hat den schönen Ausdruck „point of no return“ erfunden. War mehr als die Hälfte des Benzins verbraucht, gab es für den Piloten keine Rückflugmöglichkeit mehr. Für Systeme ohne Pegelstand lässt sich dieser Punkt nur intuitiv erfassen. Zum Beispiel wenn man ins Meer hinausschwimmt, möglichst lange, aber auch wieder zurück will. Unter dem Namen „Feigling“ spielen in naher Zukunft (und in den wunderbar verklärten Farben der nicht mehr ganz so jungen Vergangenheit der 50er Jahre) Vincent und Anthony, zwei (genetisch) ungleiche Brüder, genau dieses Spiel. Vincent ist noch nach der alten Methode gezeugt, mit den entsprechenden Defekten wie Konzentrationsstörungen und erheblicher Herzschwäche. Anthony, ein Retortenbaby, gewinnt natürlich immer, bis auf das letzte Mal, wo ihn sein Bruder, der Schwächling, retten muss. Den Trick, wie er das geschafft hat, verrät Vincent seinem Bruder allerdings erst am Ende des Films. Genau diesen Trick führt der Film insgesamt vor.

Vincent mit dem schönen, und doch zunächst so unpassend klingenden Nachnamen Freeman hat einen Traum. Er möchte gerne fliegen, und zwar zum Titan, im Rahmen des regen Flugverkehrs der Regierung. Leider hat er dafür zu schlechte Gene als Mitgift mitbekommen, es reicht gerade mal zum Müllmann. Umgekehrt scheitern Auserwählte an dem, was immer noch das Schicksal heißt und sie beispielsweise an den Rollstuhl fesselt. Klar, dass es für solche offiziell nicht vorgesehenen, aber trotzdem unvermeidlichen Fälle Berufe in der Schattenwelt gibt, wo Vermittlung gespielt wird. Es geht um Identitätstausch unter dem Namen „geborgte Leiter“. Der genetisch spärlich Ausgestattete schlüpft in die Rolle des auf der Strecke Gebliebenen. Vincent, das invalide Ich, wird Jerome, Jerome, der aus der Bahn, der validen Welt, geworfene Elitemensch, wird Eugene (das ist einfach Jeromes zweiter Name).

Der jetzt anbrechende Lebensabschnitt Vincent/Jeromes – die Vorbereitung auf die Mission – ist ein einziger Dauertest. Ständig muss er seine Identität, also eigentlich die seines alter ego, bestätigen. Das ist auch nicht schön für Eugene, der eine ganze Palette von Kühlschränken mit Blut und Pisse anlegen muss als Ausstattung seines Doubles. Er fängt zwar an zu trinken, aber er führt trotzdem ein Leben, das über das nackte Leben eines Organ- und Materialienspenders hinausgeht. Vincent/Jerome macht sich unterdessen zum Klassenbesten, er hat halt ein Ziel, er kuckt immer den Fliegern zum Titan nach, und deshalb ist er sehr verärgert, als der Leiter der einjährigen Mission plötzlich nicht mehr so richtig fliegen will. Dieser wird bald danach tot aufgefunden. Da die kriminalistischen Suchmethoden längst genetisch ausgerichtet sind, wird ein normales Haar Vincent/Jeromes ihm selbst fast zum Verhängnis. Aber zwei Zufälle retten den Träumer, denn erstens wird jemand anderes verhaftet, zweitens entpuppt sich der ermittelnde Detektiv als Vincents Bruder Anthony, der das Spiel aufdeckt und Vincent ein letztes Mal zum „Feigling“-Spiel auffordert. Als er auch jetzt wieder verliert, verrät Vincent seinem Bruder das Geheimnis. Er habe es nur deshalb schaffen können, weil er sich nie was für den Rückweg aufgespart hatte. Ob die schöne Irene auch in den Genuss dieser Mitteilung des Helden gekommen ist, verrät der Film allerdings nicht mehr. Denn natürlich fliegt Vincent am Ende, und das auch ohne Urinprobe.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Andrew Niccol, Gattaca, USA 1997</typohead>