27. April 2010

Groblogik

 

Der Titel dieser Aufsatzsammlung aus den Jahren 1986 bis 2006 ist ja schon bedrohlich genug. Das wirkliche Abenteuer beginnt aber erst, wenn man mit der eigenartigen Konklusionslogik des Autors konfrontiert wird. Zwei Wege bieten sich für den Leser an: Flucht oder Sektion. In den ersten drei Abhandlungen möchte Hutter zeigen, dass Kunst, Musik und Literatur wirtschaftliches Wachstum beeinflussen, ja sogar eine „Quelle“ dieses Wachstums darstellen. Der Autor begnügt sich im ersten Versuch mit der Nennung dreier Kunstwerke, um diesen Anschub zu belegen. Ob dieser Versuchsaufbau in einem Proseminar durchgegangen wäre?

 

Aber vielleicht stimmen ja die Thesen! Sehr generell heißt es über „die Kunst“, dass sie „eine wesentliche Funktion bei der Stabilisierung einer Gesellschaft“ habe. Und zwar, wie weiter formuliert wird, „um Wachstum durchzusetzen“. Dass Hutters Bildanalysen diese Thesen nicht stützen, muss der erwartungsvoll folgende Leser leider zur Kenntnis nehmen. Ein weiteres Fundstück, ebenfalls aus dem ersten Aufsatz: „Kunstwerke stellen außerdem Finanzkapital dar, weil ein Informationsstrom von den Werken ausgeht“. Ja, man sieht regelrecht die Geldscheine aus den Bildern flattern. Künstler müsste man sein.

 

Die Direktheit der Wirkung von Kunst aufs Leben und die Wirtschaft im Besonderen wird zudem an einem modernen Maler veranschaulicht (nach zwei Beispielen aus der Renaissance), an Picassos Les Demoiselles d’Avignon (1907). „Die neue Maltechnik hatte im Bereich der sozialen Organisation eine eindeutig destabilisierende Wirkung.“ Wie muss man sich das vorstellen, schwankende Ausstellungsbesucher nach kubistischer Infektion? Sollte Picasso nicht eigentlich die Wirtschaft ankurbeln? Wie der Autor mit reinen Ursache-Wirkungs-Schemata umgeht, ist beinahe rührend. Aber er meint es so. Ein solch kruder Funktionalismus findet sich auch im zweiten Aufsatz, der der Musik als Quelle wirtschaftlichen Wachstums gewidmet ist. Eine Perle: „Die Musik diente als Übungsfeld für solche logischen Gebilde [gemeint ist die Komposition], insbesondere in einer Epoche, in der die musikalische Bildung noch unverzichtbarer Bestandteil der höheren Bildung war. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Fähigkeit zum abstrakten Denken sich allgemein [sic] verbessert – was wiederum der Industriellen Revolution den Boden bereitete.“ Spätestens an dieser Stelle hat man keine Lust mehr, sich die Verbindung von Kunst und Wirtschaft von Michael Hutter erklären zu lassen.

 

Eine weitere Trouvaille: Kapitalbildung sei auf die Einführung der harmonischen Tonalität rückführbar. Ein starkes Wort. Aber nur konsequent, wenn Hutter am Ende verlangt, dass „bewusste Anstrengungen, vorhandene kompositorische Kompetenzen zu fördern“, unternommen werden sollten, um „Steigerungen in der wirtschaftlichen Wachstumsrate und in der Qualität der ökonomischen Wertschöpfung hervorzubringen“. Ist der Verlag hier auf einen Scharlatan hereingefallen? Doch auch die Literatur ist am Wachstumsprozess der Wirtschaft beteiligt. In streng systemtheoretischer Nomenklatur klingt das so: „Ein Sprachspiel, z.B. die Kunst [sic], löst Veränderungen in psychischen Systemen aus. Psychische Systeme lösen Veränderungen in ihren organischen Systemen aus. Die so veränderten organischen Systeme ermöglichen psychische Verhaltensweisen, die dann in sozialen Systemen, z.B. in der Wirtschaft, als Leistungen wahrgenommen werden.“ Hat man jemals so sauber und elegant gedacht? Dann heißt es aber doch nur wenige Seiten später: „Die Realkapitalbildung findet also weit entfernt vom Sprachspiel der Kunst statt.“ Wie weit denn?

 

Ärgerlich ist aber vor allem, dass falsche Ableitungen aus bestimmten Begriffen vorgenommen werden. Die im späten 18. Jahrhundert beginnende Autonomisierung der Kunst und Literatur bedeutet nicht per se „eine rigorose Selbstbezüglichkeit ihrer Aussagen“. Die Veränderung der Auftragsstruktur hat nichts zu tun mit der semiologischen (Schein)Immanenz der Aussagen der Literatur (wie erst der Werke der Bildenden Kunst). Man könnte die Auflistung von Absurditäten und Kruditäten noch fortsetzen, aber das soll erst mal reichen. Dieser „Wertwechselstrom“ sollte eher vermieden werden. Wie sagte so schön Anselm Kiefer: „Ich lasse mich treiben, aber ich kenne die Strömung, die ich mir ausgesucht habe.“

 

Dieter Wenk (03-10)

 

Michael Hutter, Wertwechselstrom. Texte zu Kunst und Wirtschaft, Hamburg 2010 (Philo Fine Arts), Fundus 183