27. April 2010

Der Hiwi vom Dorf

 

Was sucht ein außergewöhnlich begabter forensischer Anthropologe, der natürlich als solcher in die Großstadt gehört, in der Provinz? Und zwar nicht nur für 14 Tage oder drei Wochen zwecks Entspannung, sondern als Dorfbewohner mit einer entsprechenden postalischen Adresse? Der Gerichtsmediziner Dr. David Hunter kehrt also London den Rücken, nachdem er sich erfolgreich für eine ganz normale Hausarztstelle im schottischen Manham beworben hat. Niemand weiß dort von seiner Vergangenheit, weder als forensischer Anthropologe noch als von einem Verkehrsunfall psychisch Traumatisierter, der dabei Frau und Tochter verlor. Nachts sind sie wieder zu Dritt, in den Träumen, der wahre Alptraum beginnt beim Erwachen. Seelische Wunden, das weiß Hunter, heilt nur die Zeit. Doch ihren Heilplan kennt niemand.

 

Jedenfalls werden also aus einem Arzt in Manham nach Hunters Ankunft und überzeugendem Auftritt zwei, oder anderthalb, denn Dr. Henry Maitland, der bisherige Arzt, war ebenfalls Opfer eines Verkehrsunfalls. Seitdem ist er querschnittsgelähmt. Wie Hunter verlor er bei dem Unfall seine Frau. Maitland brauchte aufgrund seiner Behinderung also Unterstützung. Von den ersten drei Jahren Hunters in Manham erfährt der Leser nicht viel. Es passiert ja auch nichts. Und Simon Beckett schreibt einen wirklichen Thriller und keinen nouveau-polar. Eine Frau verschwindet. Ein Menschenraub mit Ansage. Und da der Leser meist mehr weiß als die handelnden Personen, sind diese Ansagen meist für den Leser. Kleine Antizipationen, um das kommende Grauen schon mal anzukündigen. Bereits zuvor wurde eine Frau in einem Waldstück tot – und schon ziemlich verwest – aufgefunden. Hängen die beiden Toten zusammen? Handelt es sich um den gleichen Mörder? Und: Geht es weiter mit den Morden?

 

Dem die Fälle leitenden Kommissar gesteht Hunter, dass er eigentlich vom Fach ist, obwohl er keine Lust hat, erneut als forensischer Anthropologe zu arbeiten. Holt ihn seine Vergangenheit ein? Ist es unmöglich, einen Schlussstrich zu ziehen? Natürlich hilft er bei den Untersuchungen. Doch als eine dritte Frau verschwindet, ist alles anders, denn mit dieser Person begann Hunter gerade eine viel versprechende Liaison. Und natürlich passiert, was in der Wirklichkeit nicht passiert, nämlich dass ein Gerichtsmediziner eigene Ermittlungen aufnimmt. Irgendeiner aus dem Ort selbst, so viel ist bald klar, muss der Täter sein, der seine Opfer bestialisch zurichtet. Bis zum Ende des Buchs empfiehlt sich niemand so richtig als Täter. Die gerichtsmedizinischen Untersuchungen bringen zwar wichtige zeitliche Ergebnisse, aber so gut wie keine über die Identität des Mörders. Letztlich ist es Glück, dass Hunter durch seine persönlich motivierte Umtriebigkeit ins Schwarze stößt. Und das oben schon erwähnte Teilungsprinzip geht weiter.

 

Das Ende ist stark und unerwartet. Und fast ließe sich aus dem Thriller ein kleiner fakultäten-interner Streit konstruieren: zwischen (spekulativer) Psychologie und (positivistischer) Gerichtsmedizin. Aber es gibt keinen Gewinner. Jeder ist für sich selbst zu schwach. Und gemeinsam braucht es dann auch noch ein Drittes: Nennen wir es Zufall. Oder: Leben.

 

Dieter Wenk (03-10)

 

Simon Beckett, Die Chemie des Todes. Thriller, deutsch von Andree Hesse, Reinbek bei Hamburg 2007 (Rowohlt)

 

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