20. April 2010

Philosophische Reanimation

 

Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes sind sich des mehr als leicht antiquiert klingenden Titels durchaus bewusst. Hätte aber ein anderes Wort zur Verfügung gestanden? Kandidaten wie Geist, Psyche oder Gehirn wären zwar möglich, würden aber ein anderes Konzept und somit einen anderen Sammelband zur Folge gehabt haben. Von Seele spricht heute niemand mehr, wenn, dann ironisch. Aber nur deshalb, weil es sie nicht gibt? Oder weil das Wort durch ein anderes oder einen anderen Zusammenhang ersetzt worden wäre?

 

Philosophiegeschichtlich hat die Beibehaltung des Terminus’ ihren Sinn. Und die Absicht dieses Bandes ist es, diejenigen, die sich vom Gebrauch des Wortes distanzieren oder es schlicht nicht zur Kenntnis nehmen, darüber zu informieren, dass die Begriffsgeschichte des Wortes mit schwierig zu findender phänomenaler Identifizierbarkeit einen historisch aufgebauten Abriss lohnt. Sind wir heute wirklich viel weiter als Aristoteles, der annahm, dass wir „mit der Seele“ denken? Mit was denken wir, wenn wir denken. Oder denkt es in uns, ohne dass wir das so genau mitbekommen? Lässt sich das Denken ans Gehirn delegieren, ohne dass wir ansonsten noch dafür verantwortlich wären? Haben die Neurowissenschaften erfolgreich das Erbe der Philosophie angetreten? Wenn es nicht so recht weitergeht bei der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen mag man sich in der Tat fragen, wie die Leute früher über diese Seltsamkeit gedacht haben, die noch keiner gesehen, noch keiner im Körper lokalisiert hat, von der man aber auch heute noch ungestraft annehmen kann, dass sie sich doch irgendwo zeigen muss.

 

Und doch hatte bereits vor knapp 140 Jahren der Physiologe Emil Du Bois-Reymond sein berüchtigtes „Ignorabimus“ in die Welt gesetzt: „Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er [der Naturforscher] ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen: ,Ignorabimus’.“ Platon, Aristoteles, Augustinus, Descartes werden also in diesem Band nicht deshalb heranzitiert, um genau diese Lücke zu schließen, weil man da bisher etwas übersehen hätte. Diese Philosophen wissen es auch nicht viel besser, und wenn sie das glaubten, dann wären sie heute ziemlich alleine mit diesem Glauben. Es geht bei diesem Sammelband eher darum zu zeigen, wie sehr die späteren Gedanken auf den früheren aufbauen, begrifflich, aber auch argumentationslogisch, und wie unmöglich es ist, eine saubere Trennung zwischen angeblich überkommenem Wissen und einem durch alle Prüfungssysteme gelangten Denken vorzunehmen.

 

Sehr zu empfehlen ist der „Geist und Materie“ betitelte Dialog zwischen Konrad Cramer und Jürgen Stolzenberg, der die Lust am Disput durch eben diesen Disput leidenschaftlich vorführt und sich gleichwohl davor hütet, vorschnell oder auch nur einfach schnell zu Ergebnissen zu kommen. Ansgar Beckermann wirft am Schluss des Bandes einen kritischen analytischen Blick auf Substantivierungen wie „das Ich“ oder „das Selbst“, Wortbildungen, auf die Beckermann gerne verzichten würde, weil ohne sie vermutlich gewisse Scheinprobleme erst gar nicht entstanden wären. Und das ist ja vielleicht die geheime Absicht dieses Bandes: Eine Art mobile philosophische Einsatztruppe immerhin vor die Seele treten zu lassen, auf dass sie polizeilich auf die Einhaltung bestimmter Standards in begrifflicher und argumentationslogischer Sicht poche. Die Philosophie ist noch lange nicht am Ende.

 

Dieter Wenk (04-10)

 

Katja Crone, Robert Schnepf, Jürgen Stolzenberg (Hrsg.), Über die Seele, Berlin 2010 (Suhrkamp)

 

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