27. März 2010

Videostar

 

Man nehme Sex, wähle sich vielleicht eine bestimmte Spielart aus, reichere diese mit Drogen an, lasse dazu etwas Musik erklingen, wähle ein paar unterschiedliche Zeitlevel, die ein wenig durcheinander zu bringen sind, und lasse schließlich den Helden, der all das durchgemacht hat, mit einem weisen Spruch oder mit einem verantwortungsvollen Vorhaben für die Zukunft das unruhige Kapitel der Jugend beenden. „Ab einem gewissen Augenblick muss man akzeptieren, dass man eine bestimmte Form der Existenz anzunehmen hat.“ Damit schließt dieser Roman, und man weiß nicht, ob daraus pure Resignation spricht oder sich darin die Ahnung einer heiteren Offenbarung kundtut. Denn wenn man kubistische Literatur so beschreiben könnte, dass es unmöglich ist, von einem bestimmten Punkt aus die unterschiedlichen Äußerungen des Geschehens aufeinander zu beziehen und ihnen somit Kohärenz zuzuschreiben, dann scheint Retro genau diese Definition zu erfüllen.

 

Zwei Zeitlevel werden explizit genannt: Zunächst das Jahr 1998, in dem der Held, ein gewisser Olivier Bouillère, 30 Jahre alt ist und sich mit einem gewissen Alain, knapp 60, herumtreibt und Drogen konsumiert. Daraufhin das Jahr 1978, in dem der Held also zehn Jahre alt ist. Zuletzt, auf zehn Seiten, erreicht der Leser erneut das Jahr 1998. Die wiedergefundene Zeit? Ein bisschen Proust-Anleihe? Der Name fällt zwar immer wieder, und in der Tat ist der Teil „1978“ wie eine Zeitreise angelegt. Aber ein wirklich panoramatischer Blick auf die Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts wird man in Retro nicht finden. Der gesellschaftliche Ausschnitt ist sehr speziell – die Leute um Olivier scheinen alle viel Geld zu haben, gehören allerdings weniger dem Geldadel an als einer bestimmten Spielart von dekadenter Oberschicht – wenn man will: „du côté de chez Charlus“. Ein wenig la dolce vita, das von einem bestimmten Punkt an ins Kriminelle abdriftet. Also Gustav-Aschenbach-Typen, die etwas weniger kontemplativ verfahren und keine Rücksicht nehmen auf gesellschaftliche Selbstverständigungspraktiken hinsichtlich Sex mit Minderjährigen.

 

Olivier Bouillère (der Autor) präsentiert in diesem Teil seines Romans ein spezielles Gemisch aus Hardcoresex, Kriminalroman, der Geschichte vom verlorenen Sohn und einem outrierten Märchenverständnis. Das Problem: Weder stilistisch noch bewusstseinsmäßig unterscheidet der Autor sein alter ego als 30-Jähriger und als Zehnjähriger. Die Lösung: Der Zehnjährige ist gesättigt, er hat zwar den (für viele, vor allem Männer) begehrenswerten Körper eines Knaben, aber er weiß schon alles, was kommen wird. Wer das ein wenig überspannt findet, hat vermutlich nicht so viel Spaß an diesem Buch. Aber auch sonst: Die alte Liebe mancher Franzosen zu ihrem unsterblichen Marquis de Sade, ein Besuch bei Bataille, mit einem Wort: all das, was noch immer mit sexuellen Übertretungen zu tun hat, wird hier ausführlich reinszeniert. Insofern ist Retro sehr à la française gestrickt und macht damit auch seinem Titel alle Ehren.

 

Im Abschnitt „1978“ gibt es einen Satz, der die zeitliche Vertracktheit des Ganzen ganz gut auf den Punkt bringt: „Alles ist modern, völlig aus der Mode, und die Atmosphäre birgt etwas sehr Wirkliches, was darauf hinweist, dass es sich nicht um eine Rekonstruktion handelt.“ Ein Wort zur Übersetzung: Manche Sätze wirken recht holprig. Als ob der Übersetzer zu dicht am Original kleben würde. Das müsste man mal vergleichen.

 

Dieter Wenk (03-10)

 

Olivier Bouillère, Retro. Roman, aus dem Französischen von Christian Ruzicska, unter Mitarbeit von Sandro Lutyens, Berlin 2010, Matthes & Seitz Berlin

 

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