Die Strudelgroßstadt
Die Vortizisten waren die zu ihrer Zeit nicht ganz so berühmten englischen Futuristen, der Begriff (nach: vortex: Wirbel, Strom) wurde vom amerikanischen Dichter Ezra Pound geprägt. Der Vortex stellte nach Pound den „Punkt maximaler Energie“ dar, ihm, Pound ging es also um eine Kunst der Intensitäten. Von Pound stammen auch die „Vortografien“, fotografische Aufnahmen mit Hilfe eines prismenartig konstruieren Rasierspiegels zum Beispiel eines Gesichts: mit einem gemeinsamen Kraftzentrum, aber immer neuen Aspekten des Ichs (hier machte sich Nietzsches Perspektivismus bemerkbar).
Die Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft – ilinx (gr. Wirbel) – möchten explizit nicht an die Vortizisten anschließen, und das ist auch ganz gut so, denn zum einen war dem Vortizismus nur ein kurzes Leben beschieden, und zum anderen teilten zum mindest zwei der wichtigeren Vertreter (Ezra Pound und Wyndham Lewis) einigermaßen zweifelhafte politische Vorlieben (allerdings in einer Zeit weit nach Vortex und BLAST, der Zeitschrift der Vortizisten). Die erste Nummer von ilinx widmet sich bezeichnenderweise dem Thema „Wirbel, Ströme, Turbulenzen“. ilinx ist natürlich kein ausführlicher Kommentar zum Volkssport Wettervorhersage. Die Autoren gehen vielmehr in ihren unterschiedlichen Beiträgen den gesellschaftlichen Phänomenen nach, in denen in metaphorischer Redeweise von Wirbeln etc. die Rede ist, zum Beispiel in der Welt der Börse. So thematisiert also Ramón Reichert im Auftaktessay die sprichwörtlichen Börsenturbulenzen und versucht sich an einer „Meteorologie der Finanzmärkte“. Seine These ist, „dass der metaphorische Sprachgebrauch der Börse auch einen bestimmten Einfluss auf das finanzmarktliche Handeln selbst besitzt.“ Krisen und Gaue scheinen hier also von Anfang an eingeplant zu sein.
Simon Roloff analysiert das Phänomen, wie die Arbeitslosenmassen der 1920er Jahre, die das System selbst produziert, welche also nicht als generalisierte Arbeitsunwilligkeiten verkauft werden können, sich so kanalisieren und verteilen lassen, dass durch Zusammenballungen, die das System selbst erzeugt (massenhafte Zusammenkünfte von Arbeitslosen in Arbeitsämtern), keine Revolten entstehen durch sich gegenseitig anzündende Unzufriedenheit. Natürlich darf keine Untersuchung fehlen zu einer der beeindruckendsten Produktionen von Regisseur Hitchcock, Vertigo. Anklänge an den Poundschen Begriff der Intensität findet man in Katharina Baiers Beitrag zu Kafkas Wartezimmern in seinem Proceß-Roman.
Ein medizinischer Anschnitt des Themas wird dem Leser in Rebekka Ladewigs Text „Apparaturen des Schwindels. Zum psychiatrischen, politischen und wissenschaftlichen Einsatz von Drehvorrichtungen im frühen 19. Jahrhundert“ angeboten, in dem einige umwerfende Abbildungen den großartigen Einfallsreichtum von Experimentatoren zum Besten geben. Die zweite Ausgabe von ilinx wird sich „Prozessen und Techniken der Mimese“ widmen. ilinx ist also, anders als vortex, kein künstlerisches, sondern ein wissenschaftliches Unterfangen.
Dieter Wenk (03-10)
ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, Nr. 1, 2009, Wirbel, Ströme, Turbulenzen, hg. von Anna Echterhölter et al., Hamburg 2010 (Philo Fine Arts)