20. März 2010

Jenseits der Verdinglichung

 

Die Ding-Frage schwebt nicht in einem luftleeren Raum über dem revolutionären Russland der 1920er Jahre. Sie ist natürlich und gerade hier fest eingebunden in den Prozess, in dem sich die revolutionären Denker und Künstler befinden und sie nachdenken lässt über ein Erbe, dessen Selbstverständlichkeit sie radikal hinterfragen. Kunstdinge, Alltagsdinge, Dinge, die die Industrie herstellt – was ist deren Schicksal in einer Welt, die alles auf den Kopf zu stellen bereit ist und für die auch die geringste gesellschaftliche Produktion rechtfertigungspflichtig ist. Nicht länger soll ein anonymer Markt über den Wert der Dinge bestimmen. Von dem vermutet wird, dass er gar nicht in der Lage sei, die angestrebte Trias von Funktion, Schönheit und allgemeiner Zugänglichkeit zu garantieren.

 

Die 1922 gegründete „Linke Front der Künste“ (LEF), zu der Bekanntheiten wie Rodschenko, Majakowski und Tretjakov gehörten, wiesen der Kunst eine klar definierte Rolle als Unterstützerin der Produktion zu, was erstaunlicherweise dazu führte, dass man sich auf dem Feld des Industriellen sogar mit dem kapitalistischen Feind USA solidarisch erklären konnte. Das LEF-Mitglied Boris Arvatov schrieb dazu 1926: „Der LEF ist eine bis ins kleinste Detail zeitgemäße, urbanistische, industrielle, ,amerikanisierte’ Kunst. Die LEF-Künstler wollen nicht Raritäten oder Luxusgegenstände schaffen, nicht sogenannte ,Kunstgegenstände’ im Gegensatz zu den Dingen des alltäglichen Lebens. Das Ziel der LEF-Künstler ist die Umwandlung der gesamten Kunst in die Gestaltung der materiellen Kultur der Gesellschaft in engem Kontakt mit der technischen Intelligenz.“

 

Gleichwohl, diese ja auch nur in Anführungszeichen gesetzte Schnittmenge sollte nicht überbewertet werden. Vier Jahre später, 1930, betont Vladimir Tatlin in einem kleinen Text zum Verhältnis „zwischen Mensch und Ding“, der den schönen Untertitel trägt: „Kriegserklärung an die Kommoden und Büffets“, dass die kapitalistischen Länder an einer „maximalen funktionellen Bestimmung des Dings“ gar nicht interessiert seien. Eine kollektive Lebensweise fordere aber genau das. Natürlich werden in dieser Zeit auch Debatten geführt über die Funktion des Ornaments, das nicht länger einen baulichen Mangel kaschieren dürfe. Wenn es um Standardisierung geht, heißt das, dass alles gleich aussehen muss? Kann das revolutionäre Ding überhaupt einen ästhetischen Wert aufweisen? Und zwar in der Hinsicht, dass das Ding auch einen Eigenwert habe, der es aus seiner bloßen funktionellen Bestimmung herauszieht, wie es der Formalismus formulierte, der ebenfalls in dieser Zeit entstand? Wenn nicht, dann brechen schlechte Zeiten zum Beispiel für Museen an. Noch einmal Boris Arvatov: „Eine solche Revolution wird ganz sicher auch zu einer Liquidierung der Museen, als des Borns ,ewiger’ individueller Werte, führen.“

 

Wenn überhaupt noch Museen, dann als wissenschaftlich fundierte Forschungsstätten. Dagegen hätte auch Joseph Beuys nichts einzuwenden gehabt. Bei weitem nicht alle der von Anke Hennig in diesem dicken Sampler versammelten Texte der russischen Avantgarde zu den Dingen tragen diesen diskursiven Zug einer expliziten Thematik. Eine ganze Reihe von ihnen verfährt eher spielerisch (vor allem im letzten Kapitel „Privatdenker über die Dinge“), andere Zugänge sind philosophischer Natur (für deren Lektüre man sehr viel Zeit mitbringen sollte), wieder andere sind eingebunden in bestimmte Kunstgenres (Film). Daneben liegen Gedichte vor, ein Filmskript von Lev Lunc über den „Aufstand der Dinge“ überführt die Befreiung der Dinge von den Menschen in eine apokalyptische Vision; manches ist reines Dada. Am Ende wird man vielleicht gar nicht so überrascht feststellen, dass es keine einsinnige Betrachtung und Feststellung des Dings und der Dinge im Sowjetrussland der 1920er Jahre gegeben hat. Nicht alle wollten die Welt vom Diktat der Mode befreien wie der Grafiker Lebedev. Immerhin gab es den Club der „Serapionsbrüder“ (benannt nach E.T.A. Hoffmann), der ein apolitisches, „interessantes Schreiben“ anstrebte.

 

In einer wie heute immer stärker virtualisierten Welt scheinen die materiellen Dinge eher auf dem Rückzug zu sein. Doch schon vor hundert Jahren hatte man ein Bewusstsein davon, dass die Dinge nicht das Substrat der Welt seien, sondern eine unsichtbare Prozessualität beginne, die Welt zu beherrschen. „Über die Dinge“ mag ein Anfang sein, sich über das Darunter- oder Dazwischenliegende Gedanken zu machen.

 

Dieter Wenk (03-10)

 

Anke Hennig (Hg.) Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde, Hamburg 2010 (Philo Fine Arts, Fundus 181)

 

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