7. November 2003

Selbst abführend

 

Der Vorspann des Films besteht aus einer schier unendlichen Kamerafahrt durch ein nicht näher definiertes, allerdings gigantisch dimensioniertes Gebäude. Die Fahrt lässt weder rechts noch links liegen. Es geht einfach nur vorwärts, ohne dass es voran geht. Irgendwann tauchen vor einer großen Glasfassade zwei Frauen auf. Vielleicht hat der Zuschauer gerade den Geburtskanal verlassen und schaut nun, was passiert. Natürlich fangen die Frauen gleich an zu reden, es ist ein Interview, eine der beiden, Dominique, hat gerade ein Buch geschrieben, das die These in den Raum stellt, dass das Glücksbestreben des Einzelnen mit dem Untergang des Ganzen einher gehe. Solche gegenläufigen Figuren sind ja recht häufig in der Historiografie. Ist ein staatliches Gebilde am Ende, geht’s der Kunst blendend. Freut sich ein Staat, braucht er keine Kunst. Oder eben nur die Staatskunst.

Auf den Film selbst angewandt, heißt die These: Je mehr über Liebe geredet wird, desto mehr ist sie bereits verschwunden. Oder hat den Sex zum Zwillingsgeschwister gemacht. Nach der Exposition mittels Interview geht es sofort zur Sache. Es wird weiter geredet. In kleinen, überschaubaren Gruppen, zudem geschlechtergetrennt.

Wenn man will, kann man auch das noch als Exposition sehen, die sich dann auf etwa zwei Drittel des Films beliefe. Es handelt sich jeweils um vier Personen, die sich und die männlichen bzw. weiblichen Pendants gut kennen, akademisches Milieu (Dozenten), Alter etwa 40-50. Jede Gruppe hat einen Youngster, die Rolle des Naiven, und einen Wortführer, der die Malaise mit der Liebe auf den Punkt bringt, aber gewitzt und zynisch genug ist, auch daraus noch Lust zu ziehen. Da alle schon emanzipiert sind, Männer wie Frauen, stehen die Männer hinter dem Herd (künstlerisch angeleitet von dem schwulen Claude), während die Frauen ihre Muskeln trainieren. Man amüsiert sich prächtig auf Kosten der anderen. Leider weiß der Zuschauer am Ende dieses Prozesses, nachdem ausgiebig zwischen Küche und Fitnessstudio hin- und hergezappt wurde und die eine und andere Rückblende noch die letzte Illusion über souveräne Entscheidungen im Liebesleben begraben hat, dass mit der These des Buchs irgendwas nicht stimmen kann. Und in der Tat, in dem Moment, wo alle zusammen am Essenstisch sitzen und das parasitäre Amüsement dem Gebot der Konventionalität gewichen ist – was auch eine Erleichterung für den Zuschauer bedeutet, denn nichts ist unangenehmer, als bei einer Runde wildfremder Gestalten, die sich prächtig zu unterhalten scheinen, den Beobachter zu mimen, der nicht aus Neid unwillig ist, sondern aus Ekel vor diesem sich für alles zuständig fühlenden privatistischen Lachautomatismus, den allerdings der Film selbst schon bricht durch das Aufbrechen der Gruppe –, wird das Tempo merklich langsamer, die Stimmung gesetzter, die Zwischentöne zahlreicher, und wenn dann noch ein Unbekannter auftaucht, ein Nichtakademiker, dem die schöne Rolle zufällt, noch ein Minus hinzuzufügen, dann ist klar, dass nicht mehr so viel zu lachen übrig bleibt.

Die Sache wird aber im Gegenteil noch bitter, indem die Großmäuligkeit kontrastiert wird mit dem unbestechlichen Mitschnitt eines Kennenlernens. Der Historiker Pierre trifft auf die Studentin Danielle, im Massagesalon. Die Bitterkeit fällt aber auf den Film selbst zurück, denn wo alles mindestens doppelt reflektiert wird, gähnt bei dieser Szene der blinde Fleck des unwillkürlich Passierens, und wo auch nur ein wenig die Einstellung von der des Films abweicht, ist die Abwehr da und man glaubt nicht mehr, was da geschah. Die Romanze wird zur Groteske, man selbst, in der Position Pierres, hätte nicht stand gehalten. „Äh, einen Augenblick, ich komme gleich.“ „Ah ja, klar.“ „Danke, das war super.“ Die Jungen fallen auf die Alten rein und halten es für Liebe, die Alten machen sich das Leben gegenseitig schwer und stehen trotzdem auf der bright sight of life. Schöne Häuser, schöne Ausblicke (auf den See), und natürlich ist da die Gabe der Rede, die noch mit jeder These fertig geworden ist. Die ständige Geburt von Betrug und Selbstbetrug. Mehr kann man von einem Leben nicht verlangen.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Denys Arcand, Der Untergang des amerikanischen Imperiums, Kanada 1986</typohead>