2. März 2010

Wie weit links

 

Eine neue – oder sollte man sagen: weitere? – linke Plattform in Magazingestalt ist im Entstehen. Gerade ist die erste Ausgabe von „Respektive“ herausgekommen, „Zeitbuch für Gegenblicke“. Die Herausgeber widmen die erste Nummer – ein beinahe klassischer linker Ansatz – dem Thema „Arbeit“, und zwar „in Bild, Begriff und Kritik“. Das Thema wird bezeichnenderweise unter dem Titel „Absenz“ abgehandelt. Das Zeitbuch kommt erfreulicherweise ganz ohne Werbung aus (hierin, aber auch nur hierin, dem ganz anders operierenden „Freund“, 2004-2006, vergleichbar). Allerdings wird man auch nicht auf sehr viel Witz oder Humor stoßen. Dazu ist natürlich das Thema, Arbeit, zu ernst.

 

Insgesamt gilt für das Zeitbuch, dass das Spielerische praktisch außer Kurs gesetzt ist. Insofern lässt die Trockenheit der Titel „Retrospektive“ und „Absenz“ keinerlei Missverständnis zu. Die Lage –global – ist ernst, der Kapitalismus lebt zwar immer noch, aber die „Widersprüche“ nehmen eher an Schärfe zu. Es sind etwa die Widersprüche zwischen arm und reich, den Finanziers und dem Proletariat, den avancierten Ländern und der Dritten und Vierten Welt. Warum trotzdem immer noch nichts passiert in Richtung Revolution? Dafür sorgt der sogenannte „Schein“, der das Bewusstsein umnebelt. Allerdings leben manche weniger im Nebel als andere. Und die sagen uns dann, wie es um uns steht. Dass es nicht zum Besten bestellt ist mit der Welt, dafür muss man kein Kommunist sein, um das zu konstatieren. Jeder darf von einer besseren Welt träumen. Unabhängig davon, ob die Welt selbst davon träumt. Man kann sie ja nicht fragen.

 

Die Rückschläge jedenfalls, die der Kommunismus im letzten Jahrhundert einstecken musste, hat er alleine zu verantworten, denn niemand anderes spricht eben so, wie er. Insofern ist die Rede vom „Schein“ eine ganz spezielle Rede, und der Schein taucht nur in ihr so auf. Es gibt ihn sonst nicht. Auch der Terminus der „Entfremdung“ kann nur sinnvoll innerhalb linker Positionen vertreten werden. Andere Weltzugänge haben andere Begrifflichkeiten. In diesem Zusammenhang bietet „Respektive“ keinen neuen Zugang zur Welt. Es mag verständlich sein, in sogenannten Krisenzeiten wieder mehr Marx zu lesen, aber das zeigt nur, wie wenig sich da grundsätzlich tut. Man kommt nicht weiter und man ist nicht weiter.

 

Dabei sind die einzelnen Artikel überhaupt nicht unsympathisch. Relativ wenig Jargon, die Bereitschaft zu erstaunlicher Offenheit (so richtet das Respektive Kollektiv Fragen an Alain Badiou, die dieser nicht beantwortete, und zu lesen gibt es dann eben nur die Fragen). Ein anderes Beispiel: In dem ebenfalls vom Respektive Kollektiv geführten Interview mit der Unia Jugend Oberwallis hört der Text gerade da auf, wo es spannend wird, nämlich mit der Frage: „Wenn ihr von einer anderen Gesellschaft träumt, wie sieht euer Weg dorthin aus?“ Hier kann sich der faule Leser mal selbst ein paar Gedanken machen, wenn er bei dem Projekt noch dabei ist. Der kunstaffine Leser findet u.a. Beiträge zur vergangenen Biennale in Venedig und zum australischen Bodyartist Stelarc. Im letzten Absatz dieses Beitrags heißt es: „Ob allerdings künstlerische Inszenierungen und emanzipatorische Praxis überhaupt ineinander fallen sollen, wäre zu fragen.“ Dass diese Bereiche strikt getrennt sind, ist Konsens der meisten Mitglieder der Kunstmeute.

 

Eine ausführliche Bildstrecke führt uns in die Gegenwart ostdeutscher Industrieruinenlandschaften – die charmantesten Seiten des Magazins. Und auch die Kreativen sind wieder dabei, sie werden gezeigt bei der schwierigen Aufgabe, Privatheit nicht restlos im Beruf aufgehen zu lassen. Den Start von „Respektive“ könnte man als verhalten bezeichnen. Etwas mehr Aggressivität sollte durchaus riskiert werden. Sonst fallen die „Gegenblicke“ zu zahm aus – oder man fragt sich, warum man sich ihnen überhaupt stellen soll.

 

Dieter Wenk (02-10)

 

Respektive – Zeitbuch für Gegenblicke, Heft 1 (Absenz), Hrsg. Medienverein Respektive, Zürich 2010

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