2. März 2010

Der Gute und die Schlechten

 

Die Notizen dieses schmalen Bandes stammen nicht aus einer Zeit, als es das Wort „Kino“ (cinéma) noch nicht gegeben hat. Der „Kinematograph“ ist eine ganz bewusste Setzung des Autorenfilmers Bresson, um sich von dem abzusetzen, was er schlicht und einfach „Kino“ nennt. Und komplett verdammt. Sei es in Form des „Star-systems“ Hollywoods, sei es in der Form des französischen „film de qualité“ der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, auch wenn Bresson diesen Ausdruck, Qualitätsfilm, nicht benutzt.

 

Das Buch ist überhaupt wenig anspielungsreich, es hält sich beinah ausschließlich im Bereich des Genotyps auf. Die Notizen stammen nicht aus einem Tagebuch, sie haben eher etwas von einer gediegenen Aphorismensammlung, natürlich mit Schwerpunkt Kino. Robert Bresson gehört mit zur „Neuen Welle“, die Ende der 50er Jahre Papas Kino ablösen wollte. Der Großteil der in dem Band versammelten Sentenzen stammt aus den Jahren 1950-1958, die oftmals nur zwei oder drei Zeilen langen Texte verraten aber nichts über die aktuelle Position der verschiedenen Autorenfilmer, ihre Allianzen, ihre Projekte. Bresson bespricht auch nicht eigene Filme. Er konstruiert eine saubere Gegenüberstellung seiner eigenen Haltung und derer, die er bekämpft, weil er sie verachtet. Das „Kino“, der „Schauspieler“, das „Theater“ – all das gehört für Bresson zu einer im Grunde schon vergangenen Zeit, weil diese Institutionen nichts Neues mehr zu bieten hätten. „Seinesgleichen geschieht“.

 

Bresson stellt also dem Kino den Kinematographen, dem Schauspieler das Modell und der Inszenierung den „telepathischen Austausch“ gegenüber. Das Modell soll nicht „spielen“, es würde nur das reproduzieren, was man eh schon von ihm (und damit auch von sich) kennt. Eher lässt der Regisseur das Modell so sein, und wartet darauf, dass im Verbund der Situationen und Szenen Neues entsteht. Der Regisseur erfinde nichts, es ergäben sich allerdings überraschende Dinge durch unerwartetes Inbeziehungsetzen. Ein bestimmter Wert klebe nicht am Ding, an einer Person, an einer Stimme, sondern ergebe sich aus dem Fortlauf des Films. Manche der Bemerkungen Bressons lesen sich, als käme man gerade aus einer Vorlesung des Linguisten Ferdinand de Saussure. Es kam ja dann auch die große Zeit des Genfer Semiologen. Wieder anderes meint man schon in den großartigen Essays des Ungarn Béla Balázs gelesen zu haben. Auch der Surrealismus ist nicht allzu weit, etwa in der Betonung Bressons des Automatismus. Und dann Anklänge an eine ganz andere Welt, China lässt grüßen in der Bindung des „Wahren“ an die „Wirksamkeit“. Ein chinesisches Bild: „Den unsichtbaren Wind übersetzen durch das Wasser, das er im Vorübergehen modelliert.“

 

Bresson erinnert immer wieder daran, dass der Film eine flache Kunst sei, projiziert auf eine Leinwand. Das Geheimnis des Films bestünde darin, auf dieser Fläche Überlagerungen wahrnehmen zu lassen. Schichten, die man nicht sieht, aber die sich im Verlauf des Films ergeben. Aber das seien Dinge, die sich kaum erspielen ließen. Vielleicht braucht man dafür ein drittes Auge, jedenfalls die Bereitschaft, sich auf den Kinematographen einzulassen mit dem Willen, das Kino hinter sich zu lassen. Kino, Radio, Fernsehen und Magazine gehören für Bresson zu einer „Schule der Unaufmerksamkeit“: „man schaut ohne zu sehen, man hört, ohne zu verstehen.“ Ein bisschen Mystik ist also auf jeden Fall dabei, wenn man sich auf Bresson einlässt.

 

Das schönste Beispiel dafür lässt sich der Regisseur von der Musik an die Hand geben. „Bilder: Wie die Modulationen in der Musik.“ Ein musiktheoretischer „Trick“ – die „enharmonische Verwechslung“ – bietet dem Komponisten die Möglichkeit, bei gleicher Tonlage die Tonart zu wechseln. In den Worten Bressons: „Sans rien changer, que tout soit différent.“ Dieser Band hat etwas von einer Fibel, die zum Meditieren anregt. Natürlich hat das Star-system zuletzt gewonnen. Aber einen Romantiker wie Bresson ließe das kalt.

 

Dieter Wenk (02-10)

 

Robert Bresson, Notes sur le cinématographe, Paris 1975 (Gallimard)