31. Januar 2010

Chinesischer Situationismus

 

Meist waren und blieben es fromme Wünsche, die als Desiderat angemahnten Aufforderungen von Philosophieprofessoren, man (sie selbst!) müsse sich doch irgendwann einmal eingehender mit östlicher Philosophie beschäftigen. Vielleicht wollte man einfach nicht zugeben, dass man es als inopportun oder gar unter der Würde empfand, sich mit solchen Kuriosa wie Yin und Yang auseinander zu setzen. Vielleicht erinnerte sich manch einer auch nur der vernichtenden Bemerkungen Hegels gegenüber einer Denkweise, die als philosophisch zu bezeichnen noch nicht einmal angemessen war. Das „Reich der Mitte“ hatte keine Tragödien hervorgebracht, es kannte keine Helden, seine offizielle Haltung gegenüber der „Welt“ galt als konformistisch, Ursprungsphilosophen würde man vergebens dort suchen und nach einem Wohin der allgemeinen Reise blieben die Chinesen die Antwort schuldig. Selbst Mao war in seinem strategischen Verhalten mehr von altchinesischen Vorstellungen geprägt als man annehmen mag.

 

In seinen zahlreichen Publikationen geht François Jullien immer wieder dieser chinesischen Andersheit nach und fragt danach, was diese von anderen, bevorzugt (alt)europäischen Haltungen unterscheidet. Käme es darauf an, in Kürze und Eleganz Kriterien von Plausibilität zu benennen, müsste man wohl zumindest einen Blick werfen auf einen gemeinsamen Zug, der sich auf ganz unterschiedliche Felder Altchinas erstreckt und sicher auch heute noch nicht ganz unter dem kommunistischen Deckmantel verschwunden ist. In „Die Neigung der Dinge“ stellt Jullien diesen Zug unter dem Ideogramm „che“ vor, das nicht einfach einen Begriff unter vielen meint, sondern die Haltung schlechthin beschreibt, wie sich „der Chinese“ den Lauf der Welt ausmalt.

 

Das Wort „Lauf“ ist hier ganz bewusst eingesetzt, denn das chinesische Denken kreist nicht um Zustände, sondern versucht Prozesse zu beschreiben. Prozesse, die wie gesagt keinen Anfang haben und auch kein Telos. Kein Gott, keine transzendente Instanz regelt den Verlauf, es geschieht alles wie von selbst, und es wäre verwegen, vermessen, ja verrückt, sich diesem Lauf entgegenstellen zu wollen. Wo auch immer man sich befindet und welche Position man auch immer einnimmt, gilt es, sich auf das „che“ zu stützen, das heißt die Neigung des Verlaufs zu antizipieren, die sowieso zu erwarten ist. Dafür gibt es keine allgemeinen Kriterien, denn der Lauf wiederholt sich nie, das heißt verschärft, dass man aus der Geschichte nicht lernen kann. Es heißt, sich immer wieder neu zu orientieren und zu überschlagen, was als Nächstes kommen wird. Die eigentliche Initiative geht über an den Lauf der Dinge (Tao), an den sich möglichst eng anzuschmiegen nicht nur ein Gebot der Not ist, sondern die Weisheit schlechthin. Der Stratege vermeidet die frontale Konfrontation, die Helden (und Tote) gebiert. Viel eher lässt er den Gegner sich selbst überführen im Moment der Schwäche, das heißt, wo der andere eigens Initiative ergreift und die Karten offen legt. Der Weise bleibt im Schatten und vermag durch einen minimalen Einsatz schon dorthin zu gelangen, wo die Reise sowieso hingegangen wäre.

 

Darwin konnte in China nicht erfunden werden, da man damit Eulen nach Athen getragen hätte. Und von den griechischen Philosophen hätten die Chinesen nicht viel lernen können und wollen. Sie sind keine Seinsdenker, kennen keine Substanz und verlieren sich nicht in aristotelische Spitzfindigkeiten über das „Zugrundeliegende“, das bei jeder Veränderung immer noch da sein muss. Nicht Ursache und Wirkung, sondern die „gemeinsame Bewegung“ steht im Zentrum des Interesses. Die Dualität von Ich und Welt ist auf ein Nichts reduziert. Geht es doch vielmehr um die gelungene Entsprechung und die beste Weise, Sozius zu sein. Die jeweiligen Maßstäbe ergeben sich im Unterwegssein selbst. Ein für allemal gültige Werte und Normen können nicht in Anschlag gebracht werden. Denken und Handeln erfolgen immer situativ in dem Sinne, dass eine eingetretene Konstellation immer schon ausgerichtet ist auf einen weiteren Verlauf.

 

Und den heißt es vorwegzunehmen, um die maximale Wirkung aus einer Situation herauszuschlagen. Und dann ist man schon in der nächsten mit ihren neuen Herausforderungen. Vielleicht muss man sich das als Westler ein bisschen so vorstellen wie bei der Wettervorhersage, die ja rein immanent verfährt und sich auf kein Götterwort verlassen kann. Der Engländer ist hier vorbildlich, der bekanntlich sagt, es gebe kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung. Das Wetter ist sowieso da… Ein Schuft, wer hierin einen Kommentar zu gewissen aktuellen Fragen sieht.

 

Dieter Wenk (01-2010)

 

François Jullien, La propension des choses. Pour une histoire de l’efficacité en Chine, Paris 1992 (Éditions du Seuil)