31. Januar 2010

Es war einmal

 

Ein weiterer Band – Band 10 (PhysiologieReligiöses Epos) – der „Enzyklopädie der Neuzeit“, die bei Metzler erscheint, ist im Dezember 2009 herausgebracht worden. Nach Beendigung des Projekts in einigen Jahren werden zirka 4000 Artikel für den Zeitraum von 1450-1850 verfügbar sein und mal detailliert mal überblicksartig über den Vorgänger der Moderne informieren. Dass die Neuzeit nicht die neueste Zeit ist, zeigt ein kursorischer Blick über die Artikel (nicht nur dieses Bandes): Unter Pléiade etwa wird nicht das Prestigeprojekt des Verlags Gallimard verhandelt, sondern die Dichtergruppe im 16. Jahrhundert. Den Postraub gibt es heute zwar auch noch, nicht aber die „Mordbrenner-Banden“, die diesen zu verantworten hatten. Schon im 19. Jahrhundert konnte eine Umstellung der Methoden verzeichnet werden: „An die Stelle brachialer Gewalt traten List und Verstand.“

 

Auch das, was man unter Prädestination verstanden hat, wird man nicht einfach in die heutige Zeit versetzen können, die eher auf Eigenverantwortlichkeit und immanente Zukunftsverträglichkeit setzt. Von den zahlreichen Lemmata, die das Wort „Reich“ im Wort führen, existiert heute nur noch der „Reichstag“, und der ist bekanntlich der Sitz des Bundestages. So lernt man allein bei der Durchforstung von Namen und Begriffen, was einer Zeit wichtig war, wie sie sich selbst verstanden hat. Der Vergleich mit anderen, zumal späteren Zeiten bleibt natürlich eben diesen späteren Zeiten vorbehalten, die sich auch das Privileg nehmen, frühere Zeiten und Epochen zu benennen. Das Mittelalter konnte sich nicht so benennen, auch die Neuzeit wird erst dazu, wenn die neuesten Zeiten angebrochen sind. Viele der Artikel beschäftigen sich mit Religion und Christentum, allein unter den Einzugsbereich  Religion fallen 18 Artikel (mit Fortsetzung in Band 11 der Enzyklopädie).

 

Weitere aufschlussreiche Texte zum Thema Presse und Publikation können konsultiert werden, spannend auch die Ausführungen zur Entstehung und Ausbreitung des Postwesens in Europa, das thematisch natürlich Hauptverhandlungsort dieses Projekts ist. Wann entstand der Begriff Pornografie und mit welchen durchaus auch emanzipatorischen Potenzialen war er verknüpft? Dass jede Zeit ihre eigenen Zensuren hat, erkennt man anhand der Ausführungen zu diesem Lemma. Zugleich erfährt man unter dem Nachschlagewort Pseudonym, was es mit dem Hang und Zwang zur Tarnung auf sich hatte in Zeiten, die noch nicht liberal waren. „Die Geheimhaltung weiblicher Autornamen im 18. und 19. Jh. war v.a. sozialen Sanktionen geschuldet, da die weibliche Autorschaft als Normverletzung im Rollenverhalten der Frau eingeschätzt wurde.“

 

Nicht zuletzt liefern zahlreiche Abbildungen Anschauungsmaterial zu einer Zeit, die wir nicht mehr direkt beobachten können und von der wir uns immer schneller immer weiter entfernen.

 

Dieter Wenk (01-2010)

 

Enzyklopädie der Neuzeit, Band 10 (Physiologie – Religiöses Epos), im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger, Stuttgart/Weimar 2009 (J.B. Metzler)