28. Januar 2010

Nach fünfundzwanzig Jahren – Was bleibt von der postmodernen Architektur?

 

 

Neunzehnhundertvierundachtzig

Nach siebenjähriger Planungs- und Bauzeit wird am 9. März 1984 der Neubau der Stuttgarter Staatsgalerie eröffnet.[1] Gleich, was von James Stirlings architektonischer Leistung zu halten ist – und von Hans Filbinger und Lothar Späth, Baden-Württembergs Ministerpräsidenten, als den Bauherrn –: ‚Erfolgreich’ war dieses Bauvorhaben durchaus, als eines der meistbesuchten – und weltweit meistdiskutierten – Museumsprojekte, als Beleg auch der Prosperität und kultureller Ambitionen der insgesamt recht wenig glamourösen Landeshauptstadt. Es wurde eine „Kulturmeile Stuttgart“ kreiert, mehr noch: ein unübersehbares Zeichen kultureller Identität eines historisch unzusammengehörigen Bundeslands.[2] So nimmt sich die Selbsteinschätzung der Institution Stuttgarter Staatsgalerie einigermaßen zufrieden, geradezu stolz aus:

„Stirling zelebriert Architektur als Baukunst, indem er auf den repräsentativ-monumentalen Museumstyp des 19. Jahrhunderts zurückgreift. Die streng U-förmige Anordnung der Galerieräume  - sie entspricht dem Grundriss der spätklassizistischen Alten Staatsgalerie - , die im Zentrum des Museums gelegene offene Rotunde - eine freie Anlehnung an Karl Friedrich Schinkels Altes Museum in Berlin und das Kolosseum -, kolossale Säulenordnungen, Giebel, Architrave und Steinfassaden inszenieren die Funktion des Museums als öffentliches Gebäude. Die epochale Leistung von Stirling gründet in der Zusammenführung dieser historistischen Elemente mit dem modernen Formenvokabular der funktionalistischen Architektur (farbig gefasste Stahlkonstruktionen, Sichtbeton, geschwungene Baukörper). Durch die Ambivalenz der Formen, durch ihre Widersprüche und Vielschichtigkeit gewinnt das Museum an Dynamik und scheint gerade deshalb als Haus für die Kunst des 20. Jahrhunderts prädestiniert.“[3]

Die „epochale Leistung“ Stirlings wird bis heute und außerhalb Stuttgarts sehr wohl anerkannt. Die Neue Staatsgalerie gilt als repräsentative städtebauliche und architektonische Leistung der Postmoderne. Dies erkennen auch Gegner an. Wenn der Begriff ‚Postmoderne’ in den späten sechziger Jahren aufkommt, und entsprechende Bauten Anfang der siebziger Jahre in großer Zahl bereit gestellt werden – Charles Moores ‚Piazza d’Italia’ (New Orleans) gilt als prägnantestes Beispiel der Frühzeit –, so gilt der Stuttgarter Stirling-Bau als Höhe- und beinahe Endpunkt postmoderner Architektur, denn wenig später, am Ende der achtziger Jahre, wird die nächste Architekturepoche ausgerufen: ‚Dekonstruktion’.[4] So können Stuttgart und die zur gleichen Zeit ausgerufene Internationale Bauausstellung (IBA) Berlin als Monument der Postmoderne gelten – im doppelten Sinne: als Gipfelpunkt und als Grabmal.[5] 

 

‚Postmoderne Architektur’ – zum Begriff

Charles Jencks, Robert Venturi und Heinrich Klotz gelten als einflussreichste Architekturtheoretiker der Postmoderne. Diese Trias ermöglicht ein ‚stock-taking’ postmoderner Architekturtheorie in drei verschiedenen Entwicklungsstadien: Mitte der sechziger Jahre (Venturi), als der Begriff ‚postmoderner’ Architektur noch keineswegs etabliert ist – kein Architekt deklariert sich zu diesem Zeitpunkt als ‚Postmodernen’. Mitte der siebziger Jahre, als erstmals die Möglichkeit besteht, sich auf Bestehendes, auf postmoderne Baudenkmäler, zu berufen (Jencks). Schließlich Anfang der achtziger Jahre, als die Bautätigkeit im Sinne Jencks’ und Venturis verebbt, die Agonie der postmodernen Architektur einsetzt (Klotz).

 

Charles Jencks

Ihm ist es um die „Sprachlichkeit“ von Architektur zu tun, v. a. um ihre „Metaphorizität“. Auch vertritt er die These, Architektur könne „Mythen“ kreieren und dadurch gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften. Im Kontext des Postmoderne-Diskurses, mit Blick auf Autoren wie Lyotard, Welsch oder McHale, aber auch auf Venturi und Klotz, wirkt diese Auffassung reichlich erratisch. Sie schlägt all jenen Theorien ins Gesicht, die Postmoderne mit ‚Pluralität’ oder ‚Differenz’ verbinden.

Jencks Hauptwerk: The Language of Post-Modern Architecture (1977) setzt mit Erwägungen zum Status des Begriffs ‚Postmoderne’ ein. Dann werden Unterscheidungsmerkmale für postmoderne Architekur angegeben: „doppelte Codierung“, „Sprachlichkeit“, der ‚’gestaltende Zugriff’ auf die immanente Sprachlichkeit aller Architektur’. Schließlich der Verzicht auf permanente „Innovation“.

Jencks konstatiert nun, ‚Postmoderne’ sei ein untaugliches Konzept – just darin liege sein Reiz (sic):

 

“The phrase ‚post-modern’ is not the most happy expression one can use concerning recent architecture. It is evasive, fashionable and worst of all negative – like defining women as ‘non-men’. […] All it admits is the minimum information that certain architects and buildings have moved beyond or counter to modern architecture. And yet it is precisely this vagueness and implied pluralism which the title of this book is meant to convey.”[6]

 

Dies ist ein wohletabliertes Muster postmoderner Rhetorik: Seit Leslie Fiedlers „Cross the Border – Close the Gap“ (1969) gilt absichtsvolle Inkonsistenz oder Vagheit vielen, wenn auch nicht allen, Autoren als Definitionsmerkmal für ‚Postmoderne’ – den Gegenstand wie den Begriff. In argumentationstechnischer Hinsicht hat diese Figur einen bedeutenden Vorzug: Der Autor kann sich bei jeglichen Einwänden gegen Ungereimtheiten der Argumentation auf die gleichsam naturgegebene unorthodoxe Beschaffenheit des Gegenstands (bzw. Begriffs) berufen.

Jencks ist nichtsdestoweniger um eine genealogische und zeitliche Einordnung von ‚Postmoderne’ bemüht: Die postmoderne entwickelt sich aus moderner Architektur. ‚Postmoderne’ bezeichnet eine Epoche nach der Moderne. Programmatisch ist postmoderne Architektur durch den Verzicht auf „ständige Innovation“, auf die ununterbrochene Erfindung architektonischer Formen gekennzeichnet. Jencks kann sich dabei nicht auf die Klassische Moderne des Internationalen Stils berufen, denn diese kennt keine „ständige Innovation“. Ihr Formenkanon wird in den 20er Jahren durch Gropius und Mies festgelegt und erfährt über mehrere Jahrzehnte keine durchgreifenden Veränderungen. Vermutlich hat Jencks den russischen Konstruktivismus (Tatlin, El Lissitzky) im Sinn. Er kommt dem Ideal einer ‚Revolution in Permanenz’ am nächsten.

Es handelt sich um eine überaus ‚weiche’, unkonturierte Definition: Wie sich „Innovation“ im Allgemeinen und „ständige Innovation“ voneinander abgrenzen lassen, bleibt offen. Dass Jencks den Begriff „Innovation“ nicht ausführlich darstellt – er wird in einem Satz abgehandelt –, ist dennoch zu verschmerzen: Kritik am ‚innovatorischen’ Denken ist ein inflationär gebrauchter Topos des Postmoderne-Diskurses. Wenn die einzelnen Fraktionen sich überhaupt auf ein gemeinsames Anliegen einigen könnten, dann – vielleicht – auf dieses. Die Frage, wie eine eklektische, gleichsam rückwärtsgewandte Architektur die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart reflektieren kann, wird durchweg ausgespart. Bei einem Autor wie Jencks, der die Zeitgenossenschaft des Architekten, seine Verantwortung für die Belange der Gegenwart hervorhebt, ist das umso verblüffender.

‚Postmoderne’ Architektur in Jencks’ Sinne zeichnet sich weiters durch „doppelte Codierung“ aus. Sie wendet sich an zwei verschiedene Öffentlichkeiten: architektonisch gebildete wie ungebildete Betrachter. Solche, die architektonische Codes entziffern können und solche, die sie (mangels architekturhistorischer Bildung) missdeuten oder ignorieren. Als Musterbeispiel „doppelt codierter“, d. h. postmoderner, Architektur führt Jencks den griechischen Tempel an (sic): Das Giebelfeld stellt volkstümliche Mythen dar. Die Säulenordnungen sind einzig von Experten zu deuten. So desavouiert Jencks die eigene These, Postmoderne sei eine Epoche nach der Moderne. Die Liste postmoderner Architektur avant la lettre ließe sich beinahe beliebig erweitern, z. B. um den gotischen oder barocken Kirchenbau oder den Historismus des 19. Jahrhunderts. Mehr noch: Es wäre zu fragen, ob „doppelte Codierung“ nicht ein Merkmal aller Architekturepochen ist – mit Ausnahme der Moderne: Wenn sich moderne Architektur durch hermetische ‚Sprachlosigkeit’ auszeichnet, wird ihr revolutionärer Charakter verständlich, denn Architektur war traditionell sprachlich verfasst: Es zählte zu den Selbstverständlichkeiten des alten Europa, dass Architektur zu lesen sei. Man denke an das Bildprogramm der Kathedralen, an den Symbolgehalt barocken Städtebaus (Versailles, Karlsruhe), an gründerzeitliche Boulevards als Enzyklopädien der Architektur- wie Geistesgeschichte (Münchner Ludwigstraße, Wiener Ringstraße).

Nun kann antike Architektur nicht in derselben Weise des Innovationsprinzips enthoben sein wie Bauten Moores oder Stirlings, denn dieses Prinzip ist im Altertum unbekannt. Antike Architektur unter dem Kriterium ‚Innovation’ darzustellen, sie als „innovativ“ oder „nicht-innovativ“ zu klassifizieren, ist unangemessen. Der griechische Tempel kann demnach das erste Definitionsmerkmal für ‚postmoderne’ Architektur: „keine (ständige) Innovation“ nicht erfüllen, das zweite: „doppelte Codierung“ nur mit Einschränkungen.[7]

Damit nicht genug: Im eklatanten Gegensatz zu früheren Darlegungen behauptet Jencks, alle Architektur, auch die moderne, sei sprachlich verfasst, d. h. in erster Linie „metaphorisch“:

 

“People invariably see one building in terms of another, or in terms of a similar object; in short, as a metaphor.”[8]

 

Moderne Bauten sind ‚wider Willen’ zeichenhaft. Sie werden unweigerlich als „Eisberg“, „Registrierkasse“ oder dergleichen wahrgenommen. Nicht selten geraten sie in ihrer schnöden Funktionalität zu obszönen Metaphern ‚kapitalistischen Geistes’:

 

„[…] many modern architects deny this most potent metaphorical level of meaning. […] Instead they concentrate on the supposedly rational aspects of design – the cost and function, as they narrowly define it. The result is that the inadvertent metaphors take metaphorical revenge and kick them in the behind: their buildings end up looking like metaphors of function and economics […].”[9]

 

Postmoderne Architekten reflektieren die Metaphorizität aller Architektur. Dies ist ihr auszeichnendes Merkmal. Sie sind bemüht, sie ‚produktiv zu nutzen’. Jencks formuliert dafür einige Regeln: Ein Bauwerk soll mehrere Metaphern „mischen“. Das kann nur dann gelingen, wenn es bei „Andeutungen“ bleibt. Als Musterbeispiel „gemischter“ Metaphorizität wird Le Corbusiers Wallfahrtskirche zu Ronchamp angeführt – eine Ikone Klassischer Moderne. Darüber hinaus ist Ronchamp „doppelt codiert“: Einige Metaphern sind für Experten bestimmt – ihnen kann der Kirchenbau als Bild der „vier Horizonte“ erscheinen. Andere Metaphern erschließen sich dem ‚breiten Publikum’: der „Schweizerkäse“, die „Ente“, die „Gans“. Keine dieser Metaphern dominiert. Le Corbusier ist es demnach um eine ‚Äquilibristik’ der Zeichen zu tun.

Jencks stellt eine zweite Regel für den Metapherngebrauch auf – die Kombination der Metaphern muss ‚Notwendigkeit’ suggerieren:

 

“Le Corbusier has so overcoded his building with metaphor, and so precisely related part to part, that the meanings seem as if they had been fixed by countless generations engaged in ritual […].”[10]

 

Hier scheint eine althergebrachte Idee formaler Stimmigkeit zum Tragen zu kommen, Vitruvs „venustas“. Auch für die Klassische Moderne war sie verbindlich. Weil aber postmoderne Architekten die metaphorische Dimension von Architektur in den Entwurfsprozess einbeziehen, sind sie – dies scheint Jencks zu unterstellen – im Vorteil: Ihre Entwürfe sind (im günstigen Fall) nicht allein in ‚formaler’ Hinsicht stimmig berechnet, sondern darüber hinaus unter ‚narrativen’ Gesichtspunkten. Mit der notorischen postmodernen Beliebigkeit und Lust am Fragment hat solche Architektur wenig gemein.

Auch im „Postskriptum“ der deutschen Ausgabe ist Jencks ästhetischer ‚Wert-Konservatismus’ mit Händen zu greifen: Postmoderne Architektur soll das barocke Gesamtkunstwerk wiederbeleben. So kann sie ‚sinnstiftend’ und ‚gemeinschaftsbildend’ wirken:

 

„Schließlich – man gestatte mir diese in die Zukunft weisende Anmerkung – deutet er [Moores Entwurf für die Piazza d’Italia in New Orleans] auf eine Architektur wie die des Barock hin, als verschiedene Künste sich verbanden, um ein rhetorisches Ganzes zu erzeugen. Mit Sicherheit wird der Erfolg dieser Rhetorik von außerhalb der Architektur liegenden Faktoren abhängen: von einem überzeugenden sozialen oder metaphysischen Inhalt. Die Suche nach einem solchen Inhalt ist die Herausforderung an die postmodernen Architekten.“[11] Gleichwohl: Bereits die Sehnsucht nach ‚Einheit’ und ‚Metaphysik’ scheint vielen Postmodernen zwischen Lyotard, Venturi und Welsch erklärtermaßen verwerflich...

 

Jencks führt alles in allem vier Merkmale für postmoderne Architektur an: den Verzicht auf „ständige Innovation“, „doppelte Codierung“, „Sprachlichkeit“ und den ‚‚gestaltenden Zugriff’ auf die immanente Sprachlichkeit aller Architektur’. Der Zusammenhang dieser Merkmale wird nicht aufgeklärt. Wenn postmoderne Architektur bereits durch „Sprachlichkeit“ unterschieden wird, scheint es kaum sinnhaft, „doppelte Codierung“ (‚Zweisprachigkeit’) als Unterscheidungsmerkmal anzugeben. In mancher Hinsicht bleiben Jencks’ Einlassungen unterbestimmt: Das Verhältnis zwischen „Sprachlichkeit“ und ‚Materialität’ von Architektur wird nicht zum Thema. ‚Raum’ spielt keine nennenswerte Rolle. Fast kann der Eindruck einstehen, Jencks begreife Architektur als Arrangement von Zeichen auf Flächen. Dann trifft ihn ein gängiger Einwand gegen postmoderne Architekten: Sie versagten vor dem Anspruch, Architektur als Raum zu gestalten. Darüber hinaus wird in Jencks’ Forderung, Architektur möge einen „sozialen und metaphysischen Inhalt“ zur Geltung bringen, ein bemerkenswerter Mangel an philosophischem Problembewusstsein sichtbar.[12]

Um deutliche Worte gegen die Wettbewerber im Felder postmoderner Architekturtheorie, zumal gegen Robert Venturi, ist Jencks aber durchaus nicht verlegen:

 

„He contends that buildings should look like ‚decorated sheds, not ducks’. […] Venturi, like the typical modernist that he wishes to supplant, is adopting the tactic of exclusive inversion. He is cutting out a whole area of architectural communication, duck buildings, (technically speaking iconic signs), in order to make his preferred mode, decorated shed (symbolic signs) that much more potent.“[13]

 

Robert Venturi

Neben Jencks’ The Language of Post-Modern Architecture gilt Robert Venturis Complexity and Contradiction in Architecture als wesentlicher Referenztext postmoderner Architektur und Architekturtheorie: Keine einschlägige Publikation kommt ohne Hinweis auf Venturis Großessai aus.[14]

Der Begriff ‚Postmoderne’ wird in Complexity and Contradiction nicht verwendet. Unter dem Ausdruck „komplexe Architektur“ versammelt Venturi aber recht ähnliche Phänomene wie Jencks. Auch bedient er sich verwandter Argumente. So dramatisiert er den Gegensatz zwischen „komplexer“ und moderner Architektur. Kein Zufall also, dass Complexity and Contradiction für Postmoderne reklamiert worden ist, und Venturi sich dagegen nicht verwahrt. Jencks’ und Venturis Deutungen für ‚Postmoderne’ sind dennoch unvereinbar. So tritt Venturi für ubiquitäre ‚Widersprüchlichkeit’ ein:

 

“I like complexity and contradiction in architecture. I do not like the incoherence or arbitrariness of incompetent architecture nor the precious intricacies of picturesqueness or expressionism. Instead, I speak of a complex or contradictory architecture based on the richness and ambiguity of modern experience […]. Everywhere, except in architecture, complexity and contradiction have been acknowledged, from Gödel’s proof of ultimate inconsistency in mathematics to T. S. Eliot’s analysis of “difficult” poetry and Joseph Alber’s definition of the paradoxical quality of painting.“[15]

 

Für Venturi hängt viel davon ab, ob es gelingt, in überzeugender Weise zwischen „komplexer und widersprüchlicher“ Architektur und andererseits „inkohärenter und willkürlicher“ Architektur zu unterscheiden. Keine leichte Aufgabe: Wie kann Venturi für „Widersprüchlichkeit“ votieren, aber gegen „Inkohärenz“?  Die Abgrenzung zwischen „komplexer“ und „pittoresker“ bzw. „expressiv überladener“ Architektur sollte weniger Probleme bereiten: Die letztgenannten Eigenschaften lassen sich umstandslos von „Vielfalt“ und „Reichtum an Widersprüchen“ unterscheiden. Weiteres fällt auf, dass Venturi „komplexe“ Architektur – ein Synonym für „vielfältige und widersprüchliche Architektur“ – mit kanonischen Repräsentanten der Moderne wie Albers und T.S. Eliot in Verbindung bringt. Bemerkenswert auch, dass Venturi nicht zögert, Mathematik, Literatur und Bildende Kunst einzubeziehen: „Komplexe“ bzw. ‚postmoderne’ Architektur wird als Ausdruck einer gesamtkulturellen Kondition dargestellt. Venturi kann also mit Hegel – aber ohne Jencks – sagen: ‚Architektur ist „ihre Zeit in Gedanken erfasst“.’

Venturi wandelt seine Deutung „komplexer“ Architektur im nächsten Atemzug ab: Diese unterscheidet sich graduell von „nicht-komplexer“ Architektur, denn alle Architektur enthält „Widersprüche“ („contradictions“) – wenigstens dann, wenn sie der alten Vitruvschen Maxime unterliegt, Architektur sei auf „utilitas“ (Nützlichkeit), „firmitas“ (Solidität) und „venustas“ (Anmut) angelegt. Aber recht besehen liegen keine „Widersprüche“ vor, weit eher Zielkonflikte. Überhaupt wäre zu fragen, wie „widersprüchliche“ Architektur denn vorzustellen sei. Widersprüche können an Aussagen auftreten, aber Gebäude sind keine Propositionen und enthalten keine solchen. Architekturtheorie kann in der Tat Widersprüche aufweisen, doch Venturi ordnet das Prädikat „widersprüchlich“ der Architektur selbst und einzelnen Bauten zu. In „komplexer“ Architektur wird die Reihe jener vorgeblichen „Widersprüche“ erweitert. Darin ist sie von ‚nicht-komplexer’ Architektur verschieden:

 

“[…] architecture is necessarily complex and contradictory in its very inclusion of the traditional Vitruvian elements of commodity, firmness, and delight. And today the wants of program, structure, mechanical equipment, and expression, even in single buildings in simple contexts, are diverse and conflicting in ways previously unimaginable.”[16]

 

Die Entfaltung von Architektur zu gesteigerter Komplexität ist also u. a. durch technischen Fortschritt bestimmt. So gesehen unterliegt alle zeitgenössische Architektur einer Komplexitätssteigerung. Das betrifft zumal jene „pittoreske“ und „expressiv überladene“ Architektur, von der sich Venturi ausdrücklich absetzt. „Pittoreske“ Architektur ist „komplexe“ Architektur: Das ist tatsächlich ein Widerspruch. Doch als Anwalt (vermeintlichen oder tatsächlichen) Widerspruchs erteilt sich Venturi Dispens:

 

“I am for richness of meaning rather than clarity of meaning; […] I prefer „both-and“ to „either-or“, black and white, and sometimes gray, to black or white.”[17]

 

Venturi selbst verwirklicht dieses Ideal. Er propagiert nun Architektur im Zeichen der „Ganzheit“:

 

“But an architecture of complexity and contradiction has a special obligation toward the whole: its truth must be in its totality or its implications of totality.”[18]

 

Diese Figur erinnert – zugegebenermaßen – an Jencks: Ihm war es um ein gesellschaftliches Ganzes im Zeichen des Mythos zu tun. Venturi aber deutet das „Ganze“ als ästhetisches Problem. Allerdings bliebe zu klären, wie „Komplexität“ bzw. „Widerspruch“ und die „Verpflichtung aufs Ganze“ zusammengehen: kein geringes Problem. Zwar ließe sich vorbringen, „Komplexität“ werde allein vor dem Hintergrund von ‚Totalität’ beobachtbar,  das „Ganze“ nur dort, wo disparate Elemente unterschieden werden können. Dennoch darf man bezweifeln, dass Architektur sich beiden Idealen gleichermaßen verpflichten kann: dem „Ganzen“ und dem „Widerspruch“. Welche ‚postmodernen’ Bauten verwirklichten diese ‚Äquilibristik’? Sollte „komplexe“ Architektur v. a. deshalb „widersprüchlich“ sein, weil sie die Spannung zwischen „Ganzem“ und „Widerspruch“ nicht aufzulösen vermag?

Verblüffend auch, dass Venturi den dorischen Tempel als Paradigma ‚postmoderner’ Architektur anführt. Eine zeitliche Einordnung „komplexer“ Architektur im Sinne eines Epochenbegriffs ist damit unmöglich. So muss es befremden, dass Venturi „komplexe Architektur“ immer wieder für eine Epoche nach der Moderne, d. h. nach dem Funktionalismus des Internationalen Stils, beansprucht.[19]

Gewiss scheint der dorische Tempel geeignet, Venturis Idee der ‚schwierigen Einheit’ („difficult unity“) zu veranschaulichen:

 

“The Doric temple’s simplicity to the eye is achieved through the famous subtleties and precision of its distorted geometry and the contradictions and tensions inherent in its order. […] When complexity disappeared, as in the late temples, blandness replaced simplicity.”[20]

 

Wie ist es um eine zeitgenössische Architekturtheorie bestellt, die den dorischen Tempel zum ‚Maß aller Dinge’ erhebt? Ist „komplexe Architektur“, wenn sie nicht als Epoche nach der Moderne firmiert, als „metahistorische Kategorie“ (Eco) zu begreifen, im Sinne intermittierender manieristischer Stilepochen?

 

“The desire for a complex architecture, with its attendant contradictions, is not only a reaction to the banality or prettiness of current architecture. It is an attitude common in the Mannerist periods: the sixteenth century in Italy or the Hellenistic period in Classical art, and is also a continuous strain seen in such diverse architects as Michelangelo, Palladio, Borromini, Vanbrugh, Hawksmoor, Soane, Ledoux, Butterfield, some architects of the Shingle Style, Furness, Sullivan, Lutyens, and recently, Le Corbusier, Aalto, Kahn, and others.”[21]

 

Wurden die Tempel der griechischen Spätzeit („late temples“) nicht einigermaßen abschätzig behandelt? Der dorische Tempel kann jedenfalls nicht als Beispiel „hellenistischer“ Architektur gelten: Zwischen dorischer Zeit und Hellenismus liegen Jahrhunderte. Oder sollten dergleichen Distanzen in „metahistorischer“ Vogelschau keine Rolle spielen? Welchen Wert hat eine derart disparate Zusammenstellung: Borrominis barocke Ellipsen und Le Corbusiers Kuben von La Tourette, der Petersdom und Chicagos Hochhausbauten? Ist diese Auswahl geeignet, die Extension irgendeines Begriffs zu erhellen – es sei denn, es wären die Begriffe ‚Architektur’ oder ‚Unvereinbarkeit’? Hilft sie verstehen, was „komplexe Architektur“, ‚Postmoderne’ oder ‚Manierismus’ bedeuten? Und: Ist es Zufall, dass der dorische Tempel in dieser Aufzählung nicht angeführt wird? Sollte Venturi unter der Hand zwei intensional und extensional verschiedene Begriffe „komplexer Architektur“ offerieren, einen ‚klassizistischen’ (am dorischen Tempel gebildet) und einen ‚manieristischen’?

Venturi kehrt nun zu einer emphatisch zeitgenössischen Deutung „komplexer Architektur“ zurück:

 

“First, the medium of architecture must be re-examined if the increased scope of our architecture as well as the complexity of its goals is to be expressed. […] Second, the growing complexities of our functional problems must be acknowledged.”[22]

 

Wie passt das zur These, „komplexe Architektur“ sei eine metahistorische Größe? Auf engstem Raum drängt Venturi mehrere inkongruente Deutungen für ‚Postmoderne’ zusammen.

Die Differenz zu Jencks ist – trotz der gemeinsamen Griechenland-Affinität – offenkundig. Venturi mag jene Piazza d’Italia, die Jencks so am Herzen liegt, durchaus nicht goutieren. Bei Moore dominiert, so Venturi, „Vielfalt“ als „Willkür“. Es herrscht Beliebigkeit. Robert Venturi dagegen hat  eine Äquilibristik von „Vielfalt“ und „Ganzheit“ im Sinn.

 

Heinrich Klotz

Heinrich Klotz ist keine ‚internationale Größe’ des Postmoderne-Diskurses. Seine Schriften zur Architektur haben v. a. im deutschen Sprachraum Verbreitung gefunden. Dort allerdings hat er sich einigen Einfluss erworben. In Deutschland darf er als wichtigster Repräsentant postmoderner Architekturtheorie gelten. Nun könnte man meinen, die deutsche Debatte falle im internationalen Maßstab nicht ins Gewicht. Deutschland allerdings hat als ‚Laboratorium der ‚Postmoderne’ – gleich, ob im Sinne Jencks’, Venturis oder Klotz’ – fungiert. Nirgends sonst sind so viele und so markante Beispiele postmoderner Architektur entstanden. Darüber hinaus kann Heinrich Klotz’ Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart, 1984 erschienen, als ein Vermächtnis der postmodernen Architekturtheorie gelten, mithin ein Pendant zur Stuttgarter Staatsgalerie.

Klotz’ architektursemiotischen Grundannahmen stimmen mit denen Jencks’ derart genau überein, dass eine gewisse Abhängigkeit unterstellt werden darf:

 

„Gebäude sind, ob Architekten es wollen oder nicht, Träger von Bedeutungen, auch dann, wenn sie bedeutungslos bleiben sollen. […] sogar der Vulgär-Funktionalismus der Nachkriegszeit, der kaum noch ein charakteristisches Merkmal an einem Gebäude übrig ließ, hat schließlich Bauten hervorgebracht, die ungewollt in unserem Gesichtsfeld Bedeutungen annahmen, und sei es die bedeutungsloseste aller Bedeutungen, die – scheinbar neutrale – Gleichförmigkeit, die uns als Monotonie entgegentritt.“[23]

 

Doch Jencks wird gescholten:

 

„Es war kein glücklicher Einfall von Charles Jencks, den seitens der Literaturtheorie negativ vorbelasteten Begriff in die Architekturtheorie zu übertragen, um ihm dort einen positiven Sinn abgewinnen zu wollen.“[24]

 

Das ist nicht präzise: Jencks kann ‚Postmoderne’ nicht in die Architekturtheorie „übertragen, um [diesem Begriff] dort einen positiven Sinn abgewinnen zu wollen“. Jencks unterstellt nämlich nicht, ‚Postmoderne’ sei „negativ vorbelastet“. Ganz im Gegenteil: Jencks Postmoderne-Deutung geht in wesentlichen Zügen mit Leslie Fiedler, dem Protagonisten postmoderner Literaturtheorie, konform, nicht zuletzt darin, dass beide auf dem Doppelcharakter von Architektur bzw. Literatur als Element der U- wie E-Kultur bestehen. Erstaunlich bleibt, dass Klotz den „negativ vorbelasteten“ Begriff seinerseits aufnimmt – als wolle auch er ihm einen „positiven Sinn“ abgewinnen.

Klotz’ weitere Einlassungen heben die Kontinuität von postmoderner Architektur mit der Moderne hervor – ohne das Projekt der Avantgarde rehabilitieren zu wollen:

 

„In der Architektur wird heute der Begriff der Postmoderne vor allem angewendet, wenn eine historisierende Architektur gemeint ist, die in der nostalgischen Einstimmung auf Vergangenes gänzlich aufgeht. […] Hingegen möchte ich seinen Bedeutungsbereich […] ausweiten und als postmoderne Architektur dasjenige Bauen verstehen, das den Auflagen der Moderne nicht mehr ausschließlich folgt. Sofern die Architektur auch anderen Gesetzen gehorcht als der Funktionserfüllung und der größtmöglichen Vereinfachung der Grundformen, sofern sie von der Abstraktion fort zu einer Vergegenständlichung hin tendiert, spreche ich von einer postmodernen Architektur.“ (Ebd., 16)

 

Auch gründerzeitliche Bauten erfüllen diese Definition. Sie sind auf „Funktionserfüllung“ abgestellt. Sie schwelgen zugleich in ‚funktionslosem’ Zierat. Die „Vergegenständlichung“ kann so weit gehen, dass Grund- und Aufriss bildhaft wirken. Semper und Erlwein also als postmoderne Architekten? Mit Klotz sicherlich nicht, denn jene Deutung, wonach „postmoderne Architektur“ „den Auflagen der Moderne nicht mehr ausschließlich folgt“, setzt voraus, dass Postmoderne der Moderne zeitlich nachfolgt. Wäre postmoderne Architektur eine Wiederkehr frühmoderner (oder vormoderner) Bauformen nach der Moderne, ein post-moderner Neohistorismus? Klotz’ Vorschläge zur „postmodernen Architektur“ fordern solche ‚destruktiven’ Deutungen geradezu heraus.

Klotz unternimmt einen weiteren Definitionsversuch, in Anlehnung an Charles Jencks:

 

„Es geht mir nicht so sehr darum, die verschiedenen Stilrichtungen der Gegenwart zu katalogisieren und ihnen mehr oder weniger hoffnungsvolle Namen zu geben, sondern es geht mir um den Nachweis eines leitenden Prinzips, das die Architektur der Gegenwart in ihren positiven Ergebnissen bestimmt. Dieses leitende Prinzip kann man darin wirksam sehen, daß die Gestaltung eines Bauwerks bewußt verbunden wird mit der Rückgewinnung von Inhalten, die zum „Erzählstoff“ der Gebäudeform und der Einzelformen werden können. […] Das Resultat sind […] Darstellungen von symbolhaften Gehalten und bildnerischen Themen: ästhetische Fiktionen, die nicht abstrakt „reine Formen“ bleiben, sondern gegenständlich in Erscheinung treten.“[25]

 

Postmoderne Architektur wird an dieser Stelle nicht dadurch bestimmt, dass sie irgendwelchen „anderen Gesetzen“ unterliegt als die Klassische Moderne. Ein ganz bestimmtes „Gesetz“ wird anvisiert: Der Forderung, Architektur müsse fiktionale Züge annehmen, müsse ‚erzählen’, sind wir bereits bei Jencks begegnet. Klotz’ Ausführungen haben allerdings eine bedenkliche Implikation: Jenes „leitende Prinzip“ ist einzig in „positiven Ergebnissen“ der Gegenwartsarchitektur wirksam. Zugleich ist dieses „Prinzip“ definierendes Merkmal postmoderner Architektur. Nur „positive Ergebnisse“ der Gegenwartsarchitektur können demnach als Beispiele postmoderner Architektur gelten. Anders: Postmoderne ist per se gute Architektur, und gute (Gegenwarts-)Architektur ist per se postmodern. Befremdlich auch, dass „symbolhafte Gehalte“ als auszeichnendes Merkmale‚postmoderner bzw. guter Architektur firmieren: Weiter oben wurde ‚Narrativität’ als Merkmal aller Architektur, auch der funktionalistischen, dargestellt.

Nun wartet Klotz mit einer wohlvertrauten Figur auf. Die ferne Vergangenheit (wenngleich nicht die Antike) wird für Postmoderne in Anspruch genommen:

 

„Eine palladianische Villa ist nicht nur deshalb eine der Vollkommenheit nahe Architekturfiktion, weil sie vollendete Maße und Proportionen besitzt, sondern weil sie eine Fülle von geistreichen und die Bewohneransprüche repräsentierenden Anspielungen auf die Idealität der Antike enthält und weil sie nicht nur dem täglichen Lebensablauf funktional zu entsprechen sucht, sondern weil sie das Leben fiktiv überhöht und es szenisch hinterlegt.“[26]

 

Dabei bleibt es nicht. Die Reise führt ins 19. Jahrhundert. Nun firmiert Schinkel als Muster postmoderner Architekturtheorie:

 

„Karl Friedrich Schinkel hat bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Konflikt dargestellt, der auch noch der unsrige ist. Er hat von der „radikalen Abstraction“ gesprochen, in der wir heute die funktionalistische Formel wiedererkennen, das Bauwerk „aus seinem nächsten (trivialen) Zweck allein und aus der Construction“ zu entwickeln. Das Resultat dieser Abstraktion war für Schinkel „etwas Trockenes, Starres, das der Freiheit ermangelte“.“[27]

 

Weiter geht es ins 20. Jahrhundert. Bruno Taut betritt die Szene, einer der Protagonisten moderner Architektur im Umfeld des Bauhauses:

 

„Bruno Tauts Ausdeutung des Neuen Bauens als eine gegen den „Seriosismus“ gerichtete Welt des Grazilen und Durchsichtigen war eine solche Fiktion, die nicht allein Sozialkritik enthält, sondern ebensosehr Poesie.“[28]

 

Palladio, Schinkel, Taut: Die Postmoderne umfasst zumindest vier Jahrhunderte. Zugleich firmiert sie als „Revision der Moderne“ (ebd., 104), mithin als Epoche nach der Moderne. Ausdrücklich spricht Klotz von Postmoderne als „Fortsetzung [der Moderne] und vor allem Neubeginn“. Wie gehen „Fortsetzung“ und „Neubeginn“ zusammen?

Nun könnte man Klotz’ Position abschwächen: ‚Palladio, Schinkel und Taut sind nicht als Postmodernisten anzusehen. Sie sind deren Vorläufer.’ Aber löst das besagtes Problem? Welchen Sinn sollte es haben, eine ‚Architektur nach der Moderne’ nach dem Bilde der Architektur des 16. Jahrhunderts (oder des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts) zu modellieren, bei emphatischem Insistieren auf der Zeitgenossenschaft, dem Gegenwartsbezug von Architektur? Auch wird nicht deutlich, worin sich die Fiktionalität ‚postmoderner’ Architektur von der Fiktionalität des palladianischen Manierismus, des Klassizismus Schinkels, des Neuen Bauens Tauts unterscheidet. Gibt es überhaupt Unterschiede? Klotz scheint die ‚Identitätsthese’ zu präferieren, zumindest, was Schinkel anbelangt:

 

„Schinkel suchte die Befreiung in den zwei wesentlichen Elementen, die auch heute die Antwort sind auf die „radikale Abstraction“: Das Historische und Poetische. Mit dem Historischen ist die Bereicherung des Spektrums gegeben, Bezüge herzustellen und die unterschiedlichen historisierenden Stilmittel zur Sprache der Gegenwart hinzuzugewinnen, um das Poetische daraus entstehen zu lassen. Das Poetische ist die Kraft der Vorstellung zu wünschbaren Orten, ist die Fiktion über die Zwecke hinaus.“[29]

 

Als wollte er den letzten Zweifler überzeugen, bekräftigt Klotz immer wieder die ‚Wesensgleichheit’ der Schinkelschen mit der postmodernen Architekturtheorie:

 

„Seine [Schinkels] Feststellung enthält die Definition einer Architektur, die auch die Definition postmoderner Architektur ist.“[30]

 

Das mag den Neoklassizisten in der postmodernen Architekturlandschaft entgegenkommen: Rossi, Bofill, Krier. Der schiere Anachronismus einer Postmoderne à la Schinkel bleibt aber bestehen.

Angesichts des Eklektizismus postmoderner Architektur à la Stirling und Moore muten Klotz’ weitere Einlassungen bemerkenswert optimistisch an:

 

„Nicht der Stilpluralismus ist […] die treffende Kennzeichnung der Postmoderne. […] Vielmehr ist es der Anspruch auf den fiktiven Charakter der Architektur, frontal gegen die Abstraktion der Moderne gerichtet. […] allein die Entscheidung muß getroffen werden, ob die Architektur abstrakt bleiben oder ob ihre dichterischen Darstellungsmöglichkeiten wieder zur Geltung gebracht werden sollen. Wenn letzteres geschehen soll, so stellen sich […] die unterschiedlichen Stilmittel von selbst ein, die zum Material der Fiktion gehören.“[31]

 

Dass sich die Mittel der Architektur „von selbst einstellen“, sobald entschieden ist, welcher Art Fiktion durch ein Bauwerk kreiert werden soll, dass ein Bauwerk sich gleichsam selber erdichtet, ist eine durchaus verwegene Hoffnung. Fraglich bleibt, ob sich postmoderne Architektur „frontal“ gegen die funktionalistische „Abstraktion der Moderne“ zu richten vermag, wenn sie zugleich deren „Fortsetzung“ ist. Diese Ungereimtheit tritt umso deutlicher vor Augen, weil Klotz die Kontinuität von Postmoderne und Moderne immer wieder bekräftigt. Mehr noch: Postmoderne Architektur wird als Durchgangsstadium in der Entwicklung moderner Architektur präsentiert. Postmoderne gilt nicht mehr als Fortsetzung der Moderne, schon gar nicht als Neubeginn. Sie ist Teil der Moderne:

 

„Nun darf man annehmen, daß die vorherrschende Tendenz zur gegenständlichen, narrativen Gestaltung in der Architektur der Gegenwart wieder abnehmen wird; […] die Moderne muß durch den Prozeß eines fiktionalen Gestaltens hindurch; und alle diejenigen Architekten, die meinen, die Moderne in der Reinheit der Abstraktion unbefleckt erhalten zu können, ohne sich mit dem Innovationsprozeß der Fiktionalisierung befassen zu wollen, werden an der schöpferischen Weiterentwicklung der Architektur keinen Anteil haben.“[32]

 

Diese Einlassungen behaupten eine beinahe hegelianisch anmutende Dialektik, die mit Klotzens Aussagen zum Epochenbruch zwischen Moderne und Postmoderne schwerlich in Einklang gebracht werden kann...

Klotz’ Ausführungen ist ein eklektischer Zug eigen. Kaum eine Idee ist begegnet, die nicht in ähnlicher Form von Jencks oder Venturi propagiert worden wäre. Ein missgünstiger Beobachter könnte meinen, die gedankliche Substanz der Debatte um postmoderne Architektur sei Mitte der achtziger Jahre erschöpft gewesen. In Moderne und Postmoderne dürfen wir demnach eine letzte Bestandsaufnahme zur postmodernen Architekturtheorie erkennen – wie in James Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie eine Bestandsaufnahme postmoderner Architektur. Das heißt nun nicht, Moderne und Postmoderne wäre geeignet, die Summe postmoderner Architekturtheorie zu ziehen. Eher versammelt es deren Widersprüche und Ungereimtheiten.

 

Im Sinne eines Resümees

Einige definierende Merkmale der wenigstens drei verschiedenen Theorien postmoderner Architektur lassen sich in Gegensatzpaaren anordnen. Bei anderen Merkmalen will nicht einmal das gelingen. Sie stehen sozusagen ‚quer’ oder ‚schräg’ zueinander, bezeichnen grundverschiedene Perspektiven. (So fordert Jencks eine sprachliche, metaphorisch aufgeladene Architektur. Bei Venturi bleibt dieser Gesichtspunkt peripher.)

Immerhin eines haben alle drei Autoren gemein: Sie wenden sich mit Nachdruck gegen die Architektur der Klassischen Moderne, insbesondere gegen das Werk Mies van der Rohes. (Was Le Corbusier anbelangt, ist der Fall weniger klar.) Ein gemeinsamer Gegner garantiert aber im Positiven keinen Konsens. Ein Blick auf jene Argumente, die moderne Architektur diskreditieren sollen, legt die grundverschiedenen Sichtweisen offen: Folgt man Jencks, versagt moderne Architektur vor dem Erfordernis, das Publikum zu ‚unterhalten’ und ‚große Erzählungen’ zu kreieren, die gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften vermöchten. Venturi wiederum macht modernen Architekten zum Vorwurf, sie hätten versäumt, die Vielfalt moderner Lebenswirklichkeit nachzubilden. Klotz schließlich sieht moderne Architektur durch einen Mangel an Fiktion diskreditiert – und bekräftigt den fiktionalen Charakter aller, auch der modernen, Architektur.

Darüber hinaus unterscheiden sich diese Autoren im Zugriff auf den Begriff ‚Postmoderne’. Bei Jencks und Klotz steht er im Mittelpunkt des Interesses. Bei Venturi wird er höchst selten gebraucht. Er zieht es vor, von „komplexer Architektur“ zu sprechen.

Kurzum: Einen kohärenten Begriff postmoderner Architektur hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben, wohl aber zahlreiche Definitionsversuche und Zuschreibungen. Hat irgendeine der sogenannten postmodernen Architekturtheorien oder Architekturen aufs 21. Jahrhundert, auf ‚unsere’ Gegenwart gewirkt?

 

Zweitausendzehn

Dass die Gegenwartsarchitektur neobarocke Tendenzen aufweist – und darin an Jencks denken lässt – wird niemand bestreiten: als prominentestes Beispiel kann Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao gelten. Barock ist erstens die konvulsivische Formensprache, zweitens die Idee ‚Gesamtkunstwerk’ – Einspruch gegen die white box à la Mies –, und drittens die mythenbildende, identitätsstiftende Kraft. „Guggenheim Bilbao“ ist nicht zuletzt soziale Plastik: Es hat das Bild des Baskenlandes umgeprägt, so nachhaltig, dass Städtebau wie Betriebswirtschaftslehre vom „Bilbao-Effekt“ sprechen.[33] Nicht zuletzt ist an biomorphe „Blob-Architekturen“ zu denken. Beispielhaft sind Peter Cooks Kunsthaus Graz und Norman Fosters Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin – recht unbescheiden, doch morphologisch treffend als „Berlin Brain“ bezeichnet – zu nennen. Blob-Architektur kann als Barock in Potenz gelten: Jene Dynamisierung der Form, die teils im Grundriss (Borromini, Dientzenhofer, Balthasar Neumann), teils im Dekor bewerkstelligt wurde, wird nun, mit Hilfe leistungsfähiger Rechenprogramme auf sämtliche Entwurfsparameter angewandt.

Zugegeben: Wer die Pritzker-Preisträger der letzten Jahre Revue passieren lässt – darunter Peter Zumthor, Richard Rogers, Paulo Mendes da Rocha –, die spektakulärsten Bauprojekte der vergangenen Jahre betrachtet, darunter Koolhaas’ und Herzogs/de Meurons Olympiabauten in Peking, wird vorerst nicht den Eindruck gewinnen, dass die barocke Tendenz dominiere. Barock-biomorphe Formen sind tatsächlich nicht ubiquitär. Wenn es Merkmale gibt, die heutige künstlerisch ambitionierte Architekturen untereinander – und mit postmoderner Architektur nach Stirlings, Jencks, Venturis, Klotzens Art – verbinden, so mögen sie im Bemühen um sinnliche Fülle, Assoziationsreichum und Ausdruckskraft zu erkennen sein. Auch fällt ein Gespür für den haptischen Reiz der Materialien ins Auge, das Modernisten wie Gropius, Mies und Le Corbusier durchaus fremd gewesen ist. In der Architektur unserer Tage begegnen wilde Mischungen von Holz, Glas und Kunststoff (Rem Koolhaas), zisterziensische Sichtbeton-Nüchternheit (Ando, Zumthor), Metall- und Plastik-Trash (Rogers) und farbig-dekorative ‚Anfassbarkeit’ (Herzog/de Meuron). Solche Bauten sind nicht bloß erdacht, sie wollen erfühlt sein, und darin ähneln sie Stirlings Stuttgarter Staatsgalerie.

 

 

Daniel Krause

 

 


[1] Einige der folgenden Überlegungen wurden in Buchform vorgelegt. Daniel Krause: ‚Postmoderne’ – Über die Untauglichkeit eines Begriffs der Philosophie, Architekturtheorie und Literaturtheorie. Frankfurt 2007.

 

[2] Nebenan ist, erneut nach Plänen James Stirlings, das Haus der Geschichte Baden-Württemberg errichtet worden. Trotz grammatisch heikler Namenswahl hat auch diese Institution sich, gemessen an Publizität und Besucherzahlen, erfolgreich zu etablieren verstanden.

 

 

[4] In seiner Bestandsaufnahme zeitgenössischer Architektur: Experimentelle Architekten der Gegenwart (Köln, 1991) würdigt Christian W. Thomsen Postmodernisten wie Moore, Stirling, Jencks oder Venturi kaum mehr eines Wortes.

 

[5] 1988 veranstaltet das New Yorker Museum of Modern Art jene Ausstellung über Deconstructivist Architecture, die gemeinhin als Inauguration der ‚anderen’ architektonischen ‚Postmoderne’, einer Architektur im Sinne der ‚Dekonstruktion’ angesehen wird. Sie macht Eisenman, Libeskind, Gehry weltweit bekannt.

 

[6] Charles Jencks: The Language of Post-Modern Architecture, London 1977, 7.

 

[7] Ganz ähnlich stellt sich der Fall eines weiteren Kronzeugen postmoderner Architektur in Jencks’ Sinne dar, Antoni Gaudís: Sein Schaffen fällt großenteils in die Jahrzehnte vor der Formierung der architektonischen Avantgarde. Es kann nicht sinnvoll als ‚innovativ’ oder ‚nicht-innovativ’ eingestuft werden – und nicht dem Wortsinn nach als post-modern.

 

[8] Ebd., 40.

 

[9] Ebd., 58.

 

[10] Ebd. 48.

 

[11]  Charles Jencks in: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 94.

 

[12] Zugegeben: The Language of Post-Modern Architecture ist reicher, als es in dieser Lektüre den Anschein hat. Jencks stellt ausführliche (nicht notwendig: überzeugende) semiotische Reflexionen an. Das Desiderat einer gültigen Architektursemiotik wird allerdings nicht eingelöst. Die häufigen Analogien zur gesprochenen Sprache tun ein Übriges. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Jencks’ magnum opus kaum je als Entwurf einer Architektursemiotik rezipiert wurde.

 

[13] Jencks 1977, 45.

 

[14] Wir venachlässigen Learning from Las Vegas (1972), Venturis zweites Hauptwerk. Das rechtfertigt sich erstens aus dem höheren Abstraktionsniveau von Complexity and Contradiction, zweitens aus der stärkeren Wirksamkeit im Postmoderne-Diskurs.

 

[15] Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture (2. Auflage), New York 1977, 16.

 

[16] Ebd., 16.

 

[17] A. a. O.

 

[18] A. a. O.

 

[19] Ob dieser tatsächlich als Funktionalismus zu deuten ist – Sullivans „form follows function“ insinuiert es – oder als Ästhetizismus extremer formaler Reduktion – Mies’ „less is more“ –, bleibt eine offene Frage.

 

[20] Ebd., 17.

 

[21] Ebd., 19.

 

[22] A. a. O.

 

[23] Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. Architektur der Gegenwart 1960-1980, Braunschweig 1984, 14.

 

[24] Ebd., 15.

 

[25] Ebd., 17.

 

[26] Ebd., 134.

 

[27] Ebd., 135.

 

[28] Ebd., 134.

 

[29] Ebd., 135.

 

[30] A. a. O.

 

[31] Ebd., 136.

 

[32] Ebd., 422.