27. Januar 2010

Ästhetik der Aussparung

 

Modelle der »Väterliteratur«:

Ror Wolf,

Hermann Peter Piwitt,

Thomas Lehr

 

Von Mathias Brandstädter

 

1.

Wiederholungen sind stets mit einem nachdrücklichen Innovationszwang

verbunden, in ästhetischer Hinsicht also notorisch begründungsbedürftig.

Beim Projekt der generationsübergreifenden Fortschreibung eines literarischen

Topos sind daher häufig mannigfache Amplifikationen und disparate

Neuerungen zu bewundern. Sofern das Sujet nicht nur iterierend

als vermeintlich auflagenstarker Nachhall verlegerisch eingeübter

Muster fungieren soll (immerhin auch eine Rechtfertigung, wenngleich

keine ästhetische), muss das betreffende Sujet, an den zeitgeschichtlichen

Zäsuren und Paradigmenwechseln seiner fortlaufenden Reinszenierung

mittels formaler und inhaltlicher Modifizierungen behutsam remodelliert

und zurück auf den Laufsteg publizistischer Öffentlichkeit und Kritik

geschoben werden. Zur literarischen Erfolgsgeschichte eines Topos gehört

demnach immer die Bereitschaft der Textproduzenten, sowohl über die

Beschaffenheit ihrer Ausdrucksmittel als auch über das avisierte Genre

als solches, über dessen konventionelle Arrangements von Themen,

Motiven und Techniken zu räsonieren. Die auf diesem Weg mühsam

zu erringende ästhetische Legitimation, sich noch einmal einem bereits

ausgiebig verhandelten Stoff zu widmen, findet in den hier betrachteten

Texten in einer eigentümlichen Unschärfe ihren erzählerischen Ausdruck:

Die konstitutiven Aspekte des Topos werden nämlich gerade auf dem

Weg ihrer konsequenten Aussparung auf besonders eingängige Art und

Weise gestaltet und erst dadurch zur vollen Geltung gebracht. In den

hier betrachteten Prosastücken wird implizit erzählt, was dezidiert nicht

angesprochen wird. Dieses Verfahren imponiert nicht nur durch die

immense narrative Dynamik, die es zu entfachen imstande ist, indem

es – neben einer äußert selbstkritischen und reflektierten Erzählinstanz

– an den Gelenkstellen des Plots diverse Einlassstellen für benachbarte

Sujets offeriert. Es rekurriert im Modus der Absenz in nachahmender

Geste zugleich auf den apostrophierten Topos selbst: als Verschweigen

des Verschweigens. Aber was wird eigentlich ausgespart?

 

2.

Der ultimativ desaströse Absturz der stolzen »Volksgemeinschaft« aus

dem kollektiven Größenwahn einer omnipotenten, weltbeherrschenden

Reichsherrlichkeit in den eher kleinbürgerlich-eskapistischen Reflex

nachträglicher Distanzierung und demonstrativ zur Schau getragener

Ahnungs- und Arglosigkeit wird im Generationenverhältnis der

deutschen Nachkriegsfamilie (sowie in ihrer bis dato bestehenden

identitätsstiftenden Funktion) ein Schwelbrand gelegt. Dieser wird – in

facettenreichen Ausprägungen und Varianten angefacht und glimmt bis

heute fort. Die heimgekehrten, gebrochenen Väter zelebrieren im Gestus

uneinsichtiger Schuldabwehr und selbstmitleidiger Unbescholtenheitsbeteuerung

in pauschaler Verdrängung und Trauerunfähigkeit mit

dem Wiederaufbau eine beachtliche Kompensationsleistung für ihre

fortdauernde moralische Bewusstlosigkeit. Außerdem kultivieren und

exekutieren sie im familiären Refugium in ihrer habituellen Ausstattung

als autoritäres Clan-Oberhaupt mittels Strenge, ideologischer Unnachgiebigkeit

und disziplinierender Gewalt unbekümmert ihre wohlerprobten

militärischen Ideale. Die massive Kritik derlei faschistoider

Identitätsmerkmale und des erzieherischen Versuchs ihrer vorsätzlichen

Weitergabe bilden den gängigen inhaltlichen Bezugsrahmen der hier

untersuchten literarischen Strömung: Die Sogwirkung der gefühlsambivalenten

Aufdeckung all der großen und kleinen – häufig doch

opportunistisch gefärbten – familiären Verstrickungen in den totalitären

Machtapparat und seine destruktiv-sadistischen Exzesse sowie

schließlich die Sprengung der von den Eltern installierten Schweigebarriere.

Schon ab 1960 werden diese Aspekte in verschiedenen Eruptionswellen

in einem Subgenre des Familienromans breit verhandelt. Einige

Jahre später, vom Interesse der antiautoritären Bewegung an Sozialisationsprozessen

und der damit einhergehenden linksintellektuellen Verschränkung

der öffentlichen und privaten Sphäre nachhaltig angefeuert,

geraten diese Texte in den Fokus des Literaturbetriebs. Die Produktionen

eines Gattungstitels im weiteren Sinne, der über seine beinahe fünf Jahrzehnte

währende Fortschreibung diverse Akzentuierungen und erzählerische

Variationen erfahren hat, finden Ende der 70er Jahre im feuilletonistischen

Begriff der »Väterliteratur« ihr noch heute marktübliches

Etikett. Diese Väterliteratur, die direkt nach den ersten Exkursen zugleich

auch auf den stetig anwachsenden Fundus an Beispieltexten selbstreferenziell

Bezug nimmt, ist begrifflich auf die Abhandlung generationsübergreifender

Dispute vor der Folie einer nach- und nichtfaschistischen

deutschen Identität zu beziehen. Diese Literatur evoziert in ihrer Ausrichtung

ein festes Repertoire wiederkehrender Motive, formaler Strukturen

und aufeinander Bezug nehmender Referenzen. Dieser Befund

trifft nicht nur auf die erwähnte Motivierung des Geschehens, auf den

vielfach zugrundeliegenden Schreibimpuls einer Aushebelung des

tragischen Schuld- und Mentalitätstransfers oder auf die häufig (als Teil

einer Mentalitätsgeschichte der RAF zu begreifende) gewaltfixierte und

suizidale Kanalisierung des Abrechnungsimpulses zu, sondern lässt sich

auch in formalen Belangen erhärten: So dominieren beispielsweise vornehmlich

narrative Strukturen einer (Auto-)Biografik mit bisweilen

geringem Fiktionalisierungsgrad, dokumentarische Exkurse samt vorherrschendem

Rekurs auf eine Zitat-Technik der assimilierten Sprach- und

Denkweise sowie Ex-Post-Erzählungen, die die wachsende Distanz

zum historischen Geschehen häufig mittels Empathie und Fiktion überbrücken.

Die pauschale Identifikation dieses Musters sollte indes nicht

darüber hinwegtäuschen, dass das der Gattungslogik inhärente Erfordernis

einer Gleichzeitigkeit von Strukturwandel und Konventionalität

dem Textkorpus eine zusätzliche Dynamik und Gestaltungskraft einschreibt,

die kontinuierlich Anlass zu äußerst artistischen und anspruchsvollen

Kompositionen bietet.

 

3.

Da wäre zum Beispiel das knappe Prosastück Mitteilungen aus dem Lebens

des Vaters von Ror Wolf, das – wenn auch zum schillernden Datum 1968

erstmals publiziert – sich dennoch im Verzicht auf jeglichen ausdrücklich

tribunalen Gestus übt. Kein Betroffenheitspathos, kein um Abgrenzung

bemühter Furor der mündig gewordenen Söhne, ja: erstaunlicherweise

überhaupt kein Schulddiskurs, kein kursierendes Familiengeheimnis,

das es en detail zu lüften gelte. Stattdessen referiert der Erzähler-Sohn

im Tonfall emotionsloser Deskription diverse Momentaufnahmen aus

den jugendlichen Lebensjahren mit dem Nazi-Vater. Dieser ist immerhin

mit allen Attributen schneidig-reichstreuer Funktionslogik und nachdrücklichen

Ordnungsbewusstseins ausgestattet:

 

Er hat eine gute Kommandostimme. Er stellt klirrend das Glas ab.

Er schlägt donnernd die Tür zu. Er macht kreischend den Schrank

auf. Er wühlt klappernd im Kasten. Er macht schnaufend die Tür auf.

Er hat einen Löffel in der Hand. Diesen Löffel, ruft er, hoffe er am

nächsten Tag neben dem Teller zu finden.1

 

Die komplette Palette reicht von der »schönen braunen Amtswalteruniform

« über den »kleinen bürstenartig gestutzten Führerbart« und den

Feldwebelsäbel samt Kriegsdekoration bis hin zum aufstiegswilligen

Bildungsdünkel und der schwärmerischen Begeisterung für die heimischbäuerliche

Existenzweise. Die präsentierte Abfolge jener, sich bisweilen

wiederholenden, Episoden und Schnappschüsse impliziert jedoch keine

Abstinenz in Sachen ideologiekritischer Werturteile über die Haltungen

und Nachkriegshäutungen des Vaters. Sie dekuvrieren – in simultaner

Realisierung von Komik und Entsetzen – die Funktionsweise der väterlichen

Repressionsmechanismen und die zugrunde liegende Gesinnung

im Rahmen der emotionslosen Schilderung ihrer tagtäglichen Auswüchse

gleichsam von selbst (den Löffel neben dem Teller wird der Vater auch

in den nachgestellten Sequenzen natürlich nie finden) – und nicht durch

die offensichtliche Emphase erzählerischer Appelle:

 

Er deutet auf einen Baum, an dem wir vorüberkommen, was das für

ein Baum sei, fragt er. Ich weiß es nicht. Er deutet auf die Rinde, die

Blätter, na? fragt er. Es stellt sich im Verlaufe unseres Gespräches, bei

dem er fragt und ich nichts antworte, heraus, dass es sich um eine

Buche handelt. … Warum singst du nicht? fragt er, als er singt. Ich

singe nicht, weil ich den Text nicht kenne. Wozu ist die Straße da,

singt er, na? Wozu ist die Straße da? ich habe wirklich keine Ahnung.2

 

Was hier noch skurril anmutet, entpuppt sich bald unausgesprochen als

folgenschwere Hypothek des Erzählers, spätestens nämlich, wenn –

angesichts des nunmehr vorhandenen breiten Repertoires an Naturschilderungen

und gefällig gelernten kameradschaftlichen Liedgutes –

deutlich wird, dass die fortwährenden Monologe und Vorhaltungen des

Vaters vom Erzähler unbewusst doch internalisiert wurden3, der Vater

sich nach dem Krieg in weltanschaulichen Belangen allerdings alsbald

demonstrativ neu orientiert hat. Die letztendliche Beschleunigung des

Erzähltempos durch sukzessiv großzügigere Aussparung des Geschehens

betrifft dann vor allem die Sequenzen, in denen eine eigentliche Abrechnung

ansatzweise stattgefunden haben muss (stellvertretend dafür wird

nur über die weltanschaulichen Differenzen in punkto Jazz gestritten),

wie der distanzierte Tonfall, die fortschreitend ausblendende Perspektive

und die narrativen Modi des Erzählers im Schlussteil verraten:

 

Später, wenn ich zementbleich mit aufgeplatzten Händen von meiner

Nachtschicht kam, liefen wir stumm aneinander vorbei. Später sah

ich ihn manchmal im Stern sitzen, sein Bier trinken und gestikulieren.

Später hörte ich, dass es ihm gut gehe, ja, allerdings, er säße abends

immer noch im Stern, der Weg freilich, schräg über das Trümmergrundstück,

sei nicht mehr da, jetzt müsse er hintenherum gehen, am

Darrtor vorbei; aber der Umweg mache ihm gar nicht zu schaffen.4

 

Dass die Techniken der Aussparung die intentionalen Appelle des Textes

maßgeblich rangieren, ist nicht unbemerkt geblieben.5 Neben der von

Bettina Clausen explizierten Leerstelle der »Darstellungen kriegerischer

Handlungen« setzt auch die Abwesenheit der Kritik am Vater eine Schwerpunktverschiebung,

die auf formalem Wege eine eher selten selbstkritische

und reflektierte Pointe der Erzählung nahe legt: Durch die Aussparung

des gängigen Abrechnungsprogramms – das bisweilen von der Kritik

mit dem Verdikt der Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit belegt wird –,

rücken nicht zuletzt die verbliebenen totalitären Restbestände der verinnerlichten

Erziehungsmaximen im Erzählersubjekt in den Fokus, schließlich

scheint der Erzähler trotz allem zunächst seinem Vater zuliebe »die

schöne gesunde Beschäftigung im Freien« angetreten zu haben, bevor

er sich in distanzierendem Tonfall Stück für Stück verabschiedet.

Neben derlei gelungener Etablierung einer ideologiekritischen Perspektive,

die sich vorbehält, Aspekte ihrer Missbilligung auch an das

erzählende Subjekt selbst zu adressieren, demonstriert Hermann Peter

Piwitt in seinem Roman Die Gärten im März via Aussparung einen weiteren

Kunstgriff – die Stiftung eines kausalen Nexus mit einem benachbarten

Sujet. Der Erzähler, krankgeschriebener Drucker, rekonstruiert

– durchaus im Eigeninteresse einer Selbstfindung mit literarischer Verwertungsoption

– anhand der Tagebücher und Kladden die Geschichte

des fortgesetzten Scheiterns seines nunmehr verschwundenen Freundes

Ponto, der nach abgebrochenem Jurastudium am Hamburger Stadtrand

als Gelegenheitsarbeiter eine »Kreuzung aus Vogelhaus und Höhle«

bewohnt und – ausgiebig narkotisiert – erfolglos am Projekt einer kindheitsreflektierten

Selbsterforschung laboriert, die die Ursachen seiner

katatonen Deformationen, seines in Beziehungsfragen nicht unbedingt

zuträglichen »Goofy-Charmes«6, eruieren soll. Die prägende Obsession

von Pontos Selbstentwurf, kein »Täter« sein, niemanden durch zu

offensive Forderungen verletzen zu wollen und im Zweifelsfall die Rolle

des Opfers zu präferieren7, führt in ihrem Reflex, auf eine positive

Bestimmung eines Selbstentwurfs bis hin zur Apathie zu verzichten, schließ-

lich in die Ausweglosigkeit vollständiger Isolation, zwischenmenschliche

Paralyse und Perspektivlosigkeit. Der ursächliche Schlüssel für diese

Verstümmelung der Identitätsentfaltung Pontos bleibt zunächst

ungenannt: seine totalitäre Mitgift und familiäre Herkunft, die – obwohl

stramm faschistisch – Ponto bis zur Schwelle der politischen Bewusstwerdung

durchaus mit Bildern der bürgerlichen Idylle eines Zuhauses

versorgt hat. Rückblickend eine ambivalente Hypothek, die Piwitt in

einem bedrückenden Motiv verdichtet:

 

Zu Ostern dreiundvierzig, als die Leghorn-Henne auf ihren fast ausgebrüteten

Eiern verendet, ruft Pontos Mutter ihre Jungen vor die

Haustür und zeigt ihnen eines der erkalteten Eier. Sie pellt einen Teil

der Schale ab, bis darunter der nasse Flaum des toten Kükens sichtbar

wird. ›So jetzt wisst ihr doch wenigstens, wie die Kinder kommen!‹8

 

Die formale Aussparung des Schulddiskurses in seinen Dimensionen

der konfliktträchtigen Loslösung vom Elternhaus und die tragischunbeholfene

Suche Pontos nach entsprechenden Substituten richten die

appellative Stoßrichtung des Textes auf die Folgen des Identitätsvakuums

jener Amputation aller familiären und anerzogenen Mitbringsel

sowie – in größerer Perspektive, und dafür spricht die exemplarische

Stilisierung des Personals im Roman – auf den blinden Fleck

jener wohlwollenden Deutung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte

im Sinne einer erfolgreichen Eruierung und Bändigung

faschistischer Eskapaden. Die suizidalen Tendenzen Pontos (seine »vollendeten

Umgangsformen der Selbstvernichtung«9) und die Katharsis der

angestauten Wut bei der Schlägerei auf der Party des großbürgerlichen

Bekannten Bruck (dessen Milieu wohl nicht zufällig an die Villa Augstein

erinnert), auf der Ponto als erheiternde Kuriosität willkommen ist,

sowie in Form seiner politischen Avancen und extremistischen Gewaltfixierungen

entpuppen sich im Rahmen der Mentalitätsgeschichte des

deutschen Linksextremismus als Facetten ein und derselben fragilen

Identität in beständigem Zerfall. Ein Befund, der sogar systematische

Allgemeingültigkeit beansprucht, offenbart doch ein Blick des Erzählers

auf die Phänomene Markt, Schule, Ehe, Beruf (das Schriftstellerdasein

eingeschlossen) allenthalben Auswüchse konsumistischer Verwertung,

forcierte Herrschaftsansprüche und adäquate Unterwerfungsgesten

sowie bloße Gewalt, was im Text in geradezu leitmotivischer Manier

komprimiert wird:

 

Fernsehen. In weiße Kittel und Häubchen gekleidete Frauen fahren

übereinandergestapelte Käfige auf Wägelchen an ein Fließband

heran. Aus den Käfigen ziehen sie Schuber heraus, gefüllt mit Küken,

eben ausgeschlüpften und halbausgebrüteten, zwischen noch intakten

Eiern. Sie greifen in das Kükengewimmel wie in Daunen, heben Bündel

von zwölf bis fünfzehn zappelnden Tieren auf das Fließband, während

andere die Hähnchen darunter auszusondern beginnen. Die Küken

haben es schwer, auf dem Band die Balance zu halten; kranke Tiere

mit gebrochenen Beinen, Tote trägt das Fließband davon, bis sie in

einen Behälter fallen, von den nachfolgenden Tieren oder zerspritzenden

unbefruchteten Eiern erschlagen werden oder langsam

in der wachsenden Masse aus lebenden Tieren, Eidotter und Schalen

ersticken.10

 

Dennoch setzt der Roman mit seinen sinnlich-atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen

einen ästhetischen Kontrapunkt zu diesem

tragischen Versuch einer Bewusstseinsfindung, der nicht nur die lebensgeschichtliche

Obdachlosigkeit der Täter-Kinder kontrastreich pointiert,

sondern zudem sprachlich das Territorium jenes utopischen Zuhauses

einer umfassenden Solidarität und harmonischen Identität auslotet, das

der Figur Ponto vorenthalten bleibt und lediglich vom Erzähler mutmaßlich

ansatzweise verwirklicht werden dürfte.

Eine weitere Variante der Auslassung bestimmt schließlich auch den

letzten Text, Thomas Lehrs Novelle Frühling11, die sowohl im Blick auf

die homodiegetische Erzählsituation des narrativ gedehnten Sekunden-

Countdowns eines Sterbenden als auch hinsichtlich der konsequenterweise

kongruent gestalteten Fraktur der Syntax und Orthografie, hinter

deren Zerfall und neologistischer Reorganisation die immer plastischeren

Konturen transzendenter Visionen und Übergangsstationen versöhnlicher

Heilungen hindurchschimmern, nachgerade artistische Züge

trägt, die konventionelle Analyseraster schnell an die Grenze ihrer

Anwendbarkeit katapultieren. Die Leerstelle einer figürlichen Zeichnung

des Vaters (er trägt stattdessen als namentlichen Platzhalter eine gesichtslose

Variable), die Aussparung von dessen wörtlicher Rede oder einer

direkten, gar zitierten Konfrontation des Täter-Vaters, über dessen Vergangenheit

der Erzähler und sein Bruder seit Kindheitstagen informiert

sind, bietet zugleich den Schlüssel für die vermeintliche Anachronizität

des Erzählten. Wird dem Bruder das Schreckenspanorama seiner Nachforschungen

zum Verhängnis, gilt dies für den Erzähler im Blick auf die

beharrliche Nichtbeantwortung und das Ignorieren jener Fragen: Hatte

der Bruder nämlich kurz mit einem Opfer des Vaters gesprochen und,

dies wird implizit deutlich12, sich anschließend eingehend den Dimensionen

des väterlichen Verbrechens gewidmet und in Folge dessen

Suizid begangen, leidet der Erzähler an einer Jahrzehnte währenden

Verdrängungshaltung, jener »Schwäche und Traurigkeit und Sucht

nach todbringender Vergangenheit«13, und Furcht vor einer Konservierung

und einem Transfer des väterlichen Habitus, die schließlich

ebenfalls kapitulierend in den Freitod durch Verlangen per Kopfschuss

mündet:

 

Die Handtasche mein: Geschenk, Robert, Stahl es ist wie ein kleiner

messingfarbener Zug der durch dein Gehirn fährt auf dem Gleis deiner

schwärzesten Gedanken.14

 

Die Abrechnung des Erzählers mit dem Vater ist im Gegensatz zur Figur

des Bruders nicht nur erzählerisch ausgespart, sie hat in der Konstruktion

des Autors Lehr bis zur Sterbesequenz des Erzählers niemals wirklich

stattgefunden und wird nun buchstäblich in den letzten Sekunden beim

Bersten der Schädelwände, in den Phasen des Übergangs katalysiert durch

die Präsenz des Bruders, nachgeholt:

 

ich habe nicht nachgeforscht ich bin immer nur weggelaufen ich hätte

das vakuum über dem lager mit der energie meiner verzweifelung

meines suchens füllen müssen wie du … was ich nicht wissen mochte,

Robert: das ist in mir ein abgrund geworden, der mich verschlungen

hat in mehr als dreißig jahren unerbittlich bei lebendigem leib wie

der kelch einer fleischfressenden pflanze.15

 

Durch diese so kühne wie ausgefeilte Konstruktion bewerkstelligt Lehr

sowohl die lebensgeschichtliche Aktualisierung des Erzählten als auch

die inhaltliche Verschränkung des Topos an eine beispiellos innovative

Gestaltung einer Nahtoderfahrung vor dem Hintergrund, so verrät die

letzte Optik vor dem finalen Übergang unter den Maximen »Sprache

macht frei«16 und »Ärzte für die Toten«, der tröstlichen Vision einer

kathartischen Heilung des Gewissens vollends deformierter Identitäten:

 

zu Einem Laubengang gebogenen Linden. Die sich: Zum Schloss hin.

Strecken wie ausgehungerte Verkrüppelte die ihre: fäuste Schütteln

aber. Sie heben sich nun: empor. sie wissen. Dass es. an der Zeit ist

ärzte für die. Toten zu. finden, Robert, mein Kopf ist. Nicht mehr,

ohne Flügel heben wir. uns hinauf mein Freund tod denn: es ist.

Frühling.17

 

 

4.

Der Topos der Väterliteratur wird insbesondere dort viel versprechend

reinszeniert, wo die konventionellen Klischees seiner Darstellung

beharrlich vernachlässigt werden. Die Generation der Täter-Kinder bildet

dabei durch die Exekution der Aussparungstechnik, des narrativ

forcierten vieldeutigen Verschweigens vorausgesetzter Fakten zugleich

mit einem literarischen Programm mimetisch das Schweigen der Elterngeneration

ab, legt dieses durch die Akzentuierung auf die Folgen dieser

Verdrängungshaltung im familiären Gedächtnis der Generationen bloß

und installiert mithilfe von Ellipsen hinreichend selbstkritische Erzählinstanzen,

die sogleich selbst in das Schlaglicht ihrer Kritik geraten könnten.

Ein Befund indes wirkt frappierend: Man sollte meinen, derlei modifizierende

Aussparungen treten auf das Tapet, sobald sich die formalen

und inhaltlichen Muster der Gattung nachhaltig etabliert haben. Ror

Wolfs Text fungiert hier jedoch als Auftaktakkord des gesamten Korpus

der Väterliteratur schlechthin und kreiert schon zu diesem frühen Zeitpunkt

komplexe Figurationen genrebezogener Leerstellen. Was einen

zunächst in Erstaunen versetzen möchte, goutiert der passionierte

Wolf-Leser doch seinerseits mit einem viel sagenden Schweigen und

angedeutetem Kopfnicken: Ist eben Ror Wolf, war wohl nicht anders

zu erwarten.

 

Anmerkungen:

 

1 Ror Wolf, »Mitteilungen aus

dem Leben des Vaters«, in:

ders., Ausflug an den vorläufigen

Rand der Dinge, 1988, S. 69–78,

hier: S. 70

2 Ebd., S. 71

3 Ebd., S. 72 ff.

4 Ebd., S. 78

5 Vgl. Bettina Clausen,

»Der Heimkehrerroman«, in:

Mittelweg 36, 5, 1992, S. 57–70,

hier: S. 60–63

6 Hermann Peter Piwitt, Die

Gärten im März, 1979, S. 115

7 Vgl. ebd., S. 89; 122 f.; S. 199,

S. 213

8 Ebd., S. 134

9 Vgl. ebd., S. 69; S. 74; S. 82;

S. 96

10 Vgl. ebd., S. 179 f. Mit der

gleichen Sequenz hebt auch

Monikovás Prosastück Pavane

für eine verstorbene Infantin

(1983) an, wenngleich zur

bildlichen Pointierung ein

flüchtendes schwarzes Küken

addiert wird.

11 Vgl. Thomas Lehr, Frühling.

Novelle, 2001

12 Vgl. ebd., S. 122 ff.

13 Ebd., S. 108

14 Ebd., S. 81

15 Ebd., S. 137 f.

16 Ebd., S. 133

17 Ebd., S. 142

 

 

Kultur & Gespenster Nr. 3, 2007

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