Ästhetik der Aussparung
Modelle der »Väterliteratur«:
Ror Wolf,
Hermann Peter Piwitt,
Thomas Lehr
Von Mathias Brandstädter
1.
Wiederholungen sind stets mit einem nachdrücklichen Innovationszwang
verbunden, in ästhetischer Hinsicht also notorisch begründungsbedürftig.
Beim Projekt der generationsübergreifenden Fortschreibung eines literarischen
Topos sind daher häufig mannigfache Amplifikationen und disparate
Neuerungen zu bewundern. Sofern das Sujet nicht nur iterierend
als vermeintlich auflagenstarker Nachhall verlegerisch eingeübter
Muster fungieren soll (immerhin auch eine Rechtfertigung, wenngleich
keine ästhetische), muss das betreffende Sujet, an den zeitgeschichtlichen
Zäsuren und Paradigmenwechseln seiner fortlaufenden Reinszenierung
mittels formaler und inhaltlicher Modifizierungen behutsam remodelliert
und zurück auf den Laufsteg publizistischer Öffentlichkeit und Kritik
geschoben werden. Zur literarischen Erfolgsgeschichte eines Topos gehört
demnach immer die Bereitschaft der Textproduzenten, sowohl über die
Beschaffenheit ihrer Ausdrucksmittel als auch über das avisierte Genre
als solches, über dessen konventionelle Arrangements von Themen,
Motiven und Techniken zu räsonieren. Die auf diesem Weg mühsam
zu erringende ästhetische Legitimation, sich noch einmal einem bereits
ausgiebig verhandelten Stoff zu widmen, findet in den hier betrachteten
Texten in einer eigentümlichen Unschärfe ihren erzählerischen Ausdruck:
Die konstitutiven Aspekte des Topos werden nämlich gerade auf dem
Weg ihrer konsequenten Aussparung auf besonders eingängige Art und
Weise gestaltet und erst dadurch zur vollen Geltung gebracht. In den
hier betrachteten Prosastücken wird implizit erzählt, was dezidiert nicht
angesprochen wird. Dieses Verfahren imponiert nicht nur durch die
immense narrative Dynamik, die es zu entfachen imstande ist, indem
es – neben einer äußert selbstkritischen und reflektierten Erzählinstanz
– an den Gelenkstellen des Plots diverse Einlassstellen für benachbarte
Sujets offeriert. Es rekurriert im Modus der Absenz in nachahmender
Geste zugleich auf den apostrophierten Topos selbst: als Verschweigen
des Verschweigens. Aber was wird eigentlich ausgespart?
2.
Der ultimativ desaströse Absturz der stolzen »Volksgemeinschaft« aus
dem kollektiven Größenwahn einer omnipotenten, weltbeherrschenden
Reichsherrlichkeit in den eher kleinbürgerlich-eskapistischen Reflex
nachträglicher Distanzierung und demonstrativ zur Schau getragener
Ahnungs- und Arglosigkeit wird im Generationenverhältnis der
deutschen Nachkriegsfamilie (sowie in ihrer bis dato bestehenden
identitätsstiftenden Funktion) ein Schwelbrand gelegt. Dieser wird – in
facettenreichen Ausprägungen und Varianten angefacht und glimmt bis
heute fort. Die heimgekehrten, gebrochenen Väter zelebrieren im Gestus
uneinsichtiger Schuldabwehr und selbstmitleidiger Unbescholtenheitsbeteuerung
in pauschaler Verdrängung und Trauerunfähigkeit mit
dem Wiederaufbau eine beachtliche Kompensationsleistung für ihre
fortdauernde moralische Bewusstlosigkeit. Außerdem kultivieren und
exekutieren sie im familiären Refugium in ihrer habituellen Ausstattung
als autoritäres Clan-Oberhaupt mittels Strenge, ideologischer Unnachgiebigkeit
und disziplinierender Gewalt unbekümmert ihre wohlerprobten
militärischen Ideale. Die massive Kritik derlei faschistoider
Identitätsmerkmale und des erzieherischen Versuchs ihrer vorsätzlichen
Weitergabe bilden den gängigen inhaltlichen Bezugsrahmen der hier
untersuchten literarischen Strömung: Die Sogwirkung der gefühlsambivalenten
Aufdeckung all der großen und kleinen – häufig doch
opportunistisch gefärbten – familiären Verstrickungen in den totalitären
Machtapparat und seine destruktiv-sadistischen Exzesse sowie
schließlich die Sprengung der von den Eltern installierten Schweigebarriere.
Schon ab 1960 werden diese Aspekte in verschiedenen Eruptionswellen
in einem Subgenre des Familienromans breit verhandelt. Einige
Jahre später, vom Interesse der antiautoritären Bewegung an Sozialisationsprozessen
und der damit einhergehenden linksintellektuellen Verschränkung
der öffentlichen und privaten Sphäre nachhaltig angefeuert,
geraten diese Texte in den Fokus des Literaturbetriebs. Die Produktionen
eines Gattungstitels im weiteren Sinne, der über seine beinahe fünf Jahrzehnte
währende Fortschreibung diverse Akzentuierungen und erzählerische
Variationen erfahren hat, finden Ende der 70er Jahre im feuilletonistischen
Begriff der »Väterliteratur« ihr noch heute marktübliches
Etikett. Diese Väterliteratur, die direkt nach den ersten Exkursen zugleich
auch auf den stetig anwachsenden Fundus an Beispieltexten selbstreferenziell
Bezug nimmt, ist begrifflich auf die Abhandlung generationsübergreifender
Dispute vor der Folie einer nach- und nichtfaschistischen
deutschen Identität zu beziehen. Diese Literatur evoziert in ihrer Ausrichtung
ein festes Repertoire wiederkehrender Motive, formaler Strukturen
und aufeinander Bezug nehmender Referenzen. Dieser Befund
trifft nicht nur auf die erwähnte Motivierung des Geschehens, auf den
vielfach zugrundeliegenden Schreibimpuls einer Aushebelung des
tragischen Schuld- und Mentalitätstransfers oder auf die häufig (als Teil
einer Mentalitätsgeschichte der RAF zu begreifende) gewaltfixierte und
suizidale Kanalisierung des Abrechnungsimpulses zu, sondern lässt sich
auch in formalen Belangen erhärten: So dominieren beispielsweise vornehmlich
narrative Strukturen einer (Auto-)Biografik mit bisweilen
geringem Fiktionalisierungsgrad, dokumentarische Exkurse samt vorherrschendem
Rekurs auf eine Zitat-Technik der assimilierten Sprach- und
Denkweise sowie Ex-Post-Erzählungen, die die wachsende Distanz
zum historischen Geschehen häufig mittels Empathie und Fiktion überbrücken.
Die pauschale Identifikation dieses Musters sollte indes nicht
darüber hinwegtäuschen, dass das der Gattungslogik inhärente Erfordernis
einer Gleichzeitigkeit von Strukturwandel und Konventionalität
dem Textkorpus eine zusätzliche Dynamik und Gestaltungskraft einschreibt,
die kontinuierlich Anlass zu äußerst artistischen und anspruchsvollen
Kompositionen bietet.
3.
Da wäre zum Beispiel das knappe Prosastück Mitteilungen aus dem Lebens
des Vaters von Ror Wolf, das – wenn auch zum schillernden Datum 1968
erstmals publiziert – sich dennoch im Verzicht auf jeglichen ausdrücklich
tribunalen Gestus übt. Kein Betroffenheitspathos, kein um Abgrenzung
bemühter Furor der mündig gewordenen Söhne, ja: erstaunlicherweise
überhaupt kein Schulddiskurs, kein kursierendes Familiengeheimnis,
das es en detail zu lüften gelte. Stattdessen referiert der Erzähler-Sohn
im Tonfall emotionsloser Deskription diverse Momentaufnahmen aus
den jugendlichen Lebensjahren mit dem Nazi-Vater. Dieser ist immerhin
mit allen Attributen schneidig-reichstreuer Funktionslogik und nachdrücklichen
Ordnungsbewusstseins ausgestattet:
Er hat eine gute Kommandostimme. Er stellt klirrend das Glas ab.
Er schlägt donnernd die Tür zu. Er macht kreischend den Schrank
auf. Er wühlt klappernd im Kasten. Er macht schnaufend die Tür auf.
Er hat einen Löffel in der Hand. Diesen Löffel, ruft er, hoffe er am
nächsten Tag neben dem Teller zu finden.1
Die komplette Palette reicht von der »schönen braunen Amtswalteruniform
« über den »kleinen bürstenartig gestutzten Führerbart« und den
Feldwebelsäbel samt Kriegsdekoration bis hin zum aufstiegswilligen
Bildungsdünkel und der schwärmerischen Begeisterung für die heimischbäuerliche
Existenzweise. Die präsentierte Abfolge jener, sich bisweilen
wiederholenden, Episoden und Schnappschüsse impliziert jedoch keine
Abstinenz in Sachen ideologiekritischer Werturteile über die Haltungen
und Nachkriegshäutungen des Vaters. Sie dekuvrieren – in simultaner
Realisierung von Komik und Entsetzen – die Funktionsweise der väterlichen
Repressionsmechanismen und die zugrunde liegende Gesinnung
im Rahmen der emotionslosen Schilderung ihrer tagtäglichen Auswüchse
gleichsam von selbst (den Löffel neben dem Teller wird der Vater auch
in den nachgestellten Sequenzen natürlich nie finden) – und nicht durch
die offensichtliche Emphase erzählerischer Appelle:
Er deutet auf einen Baum, an dem wir vorüberkommen, was das für
ein Baum sei, fragt er. Ich weiß es nicht. Er deutet auf die Rinde, die
Blätter, na? fragt er. Es stellt sich im Verlaufe unseres Gespräches, bei
dem er fragt und ich nichts antworte, heraus, dass es sich um eine
Buche handelt. … Warum singst du nicht? fragt er, als er singt. Ich
singe nicht, weil ich den Text nicht kenne. Wozu ist die Straße da,
singt er, na? Wozu ist die Straße da? ich habe wirklich keine Ahnung.2
Was hier noch skurril anmutet, entpuppt sich bald unausgesprochen als
folgenschwere Hypothek des Erzählers, spätestens nämlich, wenn –
angesichts des nunmehr vorhandenen breiten Repertoires an Naturschilderungen
und gefällig gelernten kameradschaftlichen Liedgutes –
deutlich wird, dass die fortwährenden Monologe und Vorhaltungen des
Vaters vom Erzähler unbewusst doch internalisiert wurden3, der Vater
sich nach dem Krieg in weltanschaulichen Belangen allerdings alsbald
demonstrativ neu orientiert hat. Die letztendliche Beschleunigung des
Erzähltempos durch sukzessiv großzügigere Aussparung des Geschehens
betrifft dann vor allem die Sequenzen, in denen eine eigentliche Abrechnung
ansatzweise stattgefunden haben muss (stellvertretend dafür wird
nur über die weltanschaulichen Differenzen in punkto Jazz gestritten),
wie der distanzierte Tonfall, die fortschreitend ausblendende Perspektive
und die narrativen Modi des Erzählers im Schlussteil verraten:
Später, wenn ich zementbleich mit aufgeplatzten Händen von meiner
Nachtschicht kam, liefen wir stumm aneinander vorbei. Später sah
ich ihn manchmal im Stern sitzen, sein Bier trinken und gestikulieren.
Später hörte ich, dass es ihm gut gehe, ja, allerdings, er säße abends
immer noch im Stern, der Weg freilich, schräg über das Trümmergrundstück,
sei nicht mehr da, jetzt müsse er hintenherum gehen, am
Darrtor vorbei; aber der Umweg mache ihm gar nicht zu schaffen.4
Dass die Techniken der Aussparung die intentionalen Appelle des Textes
maßgeblich rangieren, ist nicht unbemerkt geblieben.5 Neben der von
Bettina Clausen explizierten Leerstelle der »Darstellungen kriegerischer
Handlungen« setzt auch die Abwesenheit der Kritik am Vater eine Schwerpunktverschiebung,
die auf formalem Wege eine eher selten selbstkritische
und reflektierte Pointe der Erzählung nahe legt: Durch die Aussparung
des gängigen Abrechnungsprogramms – das bisweilen von der Kritik
mit dem Verdikt der Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit belegt wird –,
rücken nicht zuletzt die verbliebenen totalitären Restbestände der verinnerlichten
Erziehungsmaximen im Erzählersubjekt in den Fokus, schließlich
scheint der Erzähler trotz allem zunächst seinem Vater zuliebe »die
schöne gesunde Beschäftigung im Freien« angetreten zu haben, bevor
er sich in distanzierendem Tonfall Stück für Stück verabschiedet.
Neben derlei gelungener Etablierung einer ideologiekritischen Perspektive,
die sich vorbehält, Aspekte ihrer Missbilligung auch an das
erzählende Subjekt selbst zu adressieren, demonstriert Hermann Peter
Piwitt in seinem Roman Die Gärten im März via Aussparung einen weiteren
Kunstgriff – die Stiftung eines kausalen Nexus mit einem benachbarten
Sujet. Der Erzähler, krankgeschriebener Drucker, rekonstruiert
– durchaus im Eigeninteresse einer Selbstfindung mit literarischer Verwertungsoption
– anhand der Tagebücher und Kladden die Geschichte
des fortgesetzten Scheiterns seines nunmehr verschwundenen Freundes
Ponto, der nach abgebrochenem Jurastudium am Hamburger Stadtrand
als Gelegenheitsarbeiter eine »Kreuzung aus Vogelhaus und Höhle«
bewohnt und – ausgiebig narkotisiert – erfolglos am Projekt einer kindheitsreflektierten
Selbsterforschung laboriert, die die Ursachen seiner
katatonen Deformationen, seines in Beziehungsfragen nicht unbedingt
zuträglichen »Goofy-Charmes«6, eruieren soll. Die prägende Obsession
von Pontos Selbstentwurf, kein »Täter« sein, niemanden durch zu
offensive Forderungen verletzen zu wollen und im Zweifelsfall die Rolle
des Opfers zu präferieren7, führt in ihrem Reflex, auf eine positive
Bestimmung eines Selbstentwurfs bis hin zur Apathie zu verzichten, schließ-
lich in die Ausweglosigkeit vollständiger Isolation, zwischenmenschliche
Paralyse und Perspektivlosigkeit. Der ursächliche Schlüssel für diese
Verstümmelung der Identitätsentfaltung Pontos bleibt zunächst
ungenannt: seine totalitäre Mitgift und familiäre Herkunft, die – obwohl
stramm faschistisch – Ponto bis zur Schwelle der politischen Bewusstwerdung
durchaus mit Bildern der bürgerlichen Idylle eines Zuhauses
versorgt hat. Rückblickend eine ambivalente Hypothek, die Piwitt in
einem bedrückenden Motiv verdichtet:
Zu Ostern dreiundvierzig, als die Leghorn-Henne auf ihren fast ausgebrüteten
Eiern verendet, ruft Pontos Mutter ihre Jungen vor die
Haustür und zeigt ihnen eines der erkalteten Eier. Sie pellt einen Teil
der Schale ab, bis darunter der nasse Flaum des toten Kükens sichtbar
wird. ›So jetzt wisst ihr doch wenigstens, wie die Kinder kommen!‹8
Die formale Aussparung des Schulddiskurses in seinen Dimensionen
der konfliktträchtigen Loslösung vom Elternhaus und die tragischunbeholfene
Suche Pontos nach entsprechenden Substituten richten die
appellative Stoßrichtung des Textes auf die Folgen des Identitätsvakuums
jener Amputation aller familiären und anerzogenen Mitbringsel
sowie – in größerer Perspektive, und dafür spricht die exemplarische
Stilisierung des Personals im Roman – auf den blinden Fleck
jener wohlwollenden Deutung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte
im Sinne einer erfolgreichen Eruierung und Bändigung
faschistischer Eskapaden. Die suizidalen Tendenzen Pontos (seine »vollendeten
Umgangsformen der Selbstvernichtung«9) und die Katharsis der
angestauten Wut bei der Schlägerei auf der Party des großbürgerlichen
Bekannten Bruck (dessen Milieu wohl nicht zufällig an die Villa Augstein
erinnert), auf der Ponto als erheiternde Kuriosität willkommen ist,
sowie in Form seiner politischen Avancen und extremistischen Gewaltfixierungen
entpuppen sich im Rahmen der Mentalitätsgeschichte des
deutschen Linksextremismus als Facetten ein und derselben fragilen
Identität in beständigem Zerfall. Ein Befund, der sogar systematische
Allgemeingültigkeit beansprucht, offenbart doch ein Blick des Erzählers
auf die Phänomene Markt, Schule, Ehe, Beruf (das Schriftstellerdasein
eingeschlossen) allenthalben Auswüchse konsumistischer Verwertung,
forcierte Herrschaftsansprüche und adäquate Unterwerfungsgesten
sowie bloße Gewalt, was im Text in geradezu leitmotivischer Manier
komprimiert wird:
Fernsehen. In weiße Kittel und Häubchen gekleidete Frauen fahren
übereinandergestapelte Käfige auf Wägelchen an ein Fließband
heran. Aus den Käfigen ziehen sie Schuber heraus, gefüllt mit Küken,
eben ausgeschlüpften und halbausgebrüteten, zwischen noch intakten
Eiern. Sie greifen in das Kükengewimmel wie in Daunen, heben Bündel
von zwölf bis fünfzehn zappelnden Tieren auf das Fließband, während
andere die Hähnchen darunter auszusondern beginnen. Die Küken
haben es schwer, auf dem Band die Balance zu halten; kranke Tiere
mit gebrochenen Beinen, Tote trägt das Fließband davon, bis sie in
einen Behälter fallen, von den nachfolgenden Tieren oder zerspritzenden
unbefruchteten Eiern erschlagen werden oder langsam
in der wachsenden Masse aus lebenden Tieren, Eidotter und Schalen
ersticken.10
Dennoch setzt der Roman mit seinen sinnlich-atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen
einen ästhetischen Kontrapunkt zu diesem
tragischen Versuch einer Bewusstseinsfindung, der nicht nur die lebensgeschichtliche
Obdachlosigkeit der Täter-Kinder kontrastreich pointiert,
sondern zudem sprachlich das Territorium jenes utopischen Zuhauses
einer umfassenden Solidarität und harmonischen Identität auslotet, das
der Figur Ponto vorenthalten bleibt und lediglich vom Erzähler mutmaßlich
ansatzweise verwirklicht werden dürfte.
Eine weitere Variante der Auslassung bestimmt schließlich auch den
letzten Text, Thomas Lehrs Novelle Frühling11, die sowohl im Blick auf
die homodiegetische Erzählsituation des narrativ gedehnten Sekunden-
Countdowns eines Sterbenden als auch hinsichtlich der konsequenterweise
kongruent gestalteten Fraktur der Syntax und Orthografie, hinter
deren Zerfall und neologistischer Reorganisation die immer plastischeren
Konturen transzendenter Visionen und Übergangsstationen versöhnlicher
Heilungen hindurchschimmern, nachgerade artistische Züge
trägt, die konventionelle Analyseraster schnell an die Grenze ihrer
Anwendbarkeit katapultieren. Die Leerstelle einer figürlichen Zeichnung
des Vaters (er trägt stattdessen als namentlichen Platzhalter eine gesichtslose
Variable), die Aussparung von dessen wörtlicher Rede oder einer
direkten, gar zitierten Konfrontation des Täter-Vaters, über dessen Vergangenheit
der Erzähler und sein Bruder seit Kindheitstagen informiert
sind, bietet zugleich den Schlüssel für die vermeintliche Anachronizität
des Erzählten. Wird dem Bruder das Schreckenspanorama seiner Nachforschungen
zum Verhängnis, gilt dies für den Erzähler im Blick auf die
beharrliche Nichtbeantwortung und das Ignorieren jener Fragen: Hatte
der Bruder nämlich kurz mit einem Opfer des Vaters gesprochen und,
dies wird implizit deutlich12, sich anschließend eingehend den Dimensionen
des väterlichen Verbrechens gewidmet und in Folge dessen
Suizid begangen, leidet der Erzähler an einer Jahrzehnte währenden
Verdrängungshaltung, jener »Schwäche und Traurigkeit und Sucht
nach todbringender Vergangenheit«13, und Furcht vor einer Konservierung
und einem Transfer des väterlichen Habitus, die schließlich
ebenfalls kapitulierend in den Freitod durch Verlangen per Kopfschuss
mündet:
Die Handtasche mein: Geschenk, Robert, Stahl es ist wie ein kleiner
messingfarbener Zug der durch dein Gehirn fährt auf dem Gleis deiner
schwärzesten Gedanken.14
Die Abrechnung des Erzählers mit dem Vater ist im Gegensatz zur Figur
des Bruders nicht nur erzählerisch ausgespart, sie hat in der Konstruktion
des Autors Lehr bis zur Sterbesequenz des Erzählers niemals wirklich
stattgefunden und wird nun buchstäblich in den letzten Sekunden beim
Bersten der Schädelwände, in den Phasen des Übergangs katalysiert durch
die Präsenz des Bruders, nachgeholt:
ich habe nicht nachgeforscht ich bin immer nur weggelaufen ich hätte
das vakuum über dem lager mit der energie meiner verzweifelung
meines suchens füllen müssen wie du … was ich nicht wissen mochte,
Robert: das ist in mir ein abgrund geworden, der mich verschlungen
hat in mehr als dreißig jahren unerbittlich bei lebendigem leib wie
der kelch einer fleischfressenden pflanze.15
Durch diese so kühne wie ausgefeilte Konstruktion bewerkstelligt Lehr
sowohl die lebensgeschichtliche Aktualisierung des Erzählten als auch
die inhaltliche Verschränkung des Topos an eine beispiellos innovative
Gestaltung einer Nahtoderfahrung vor dem Hintergrund, so verrät die
letzte Optik vor dem finalen Übergang unter den Maximen »Sprache
macht frei«16 und »Ärzte für die Toten«, der tröstlichen Vision einer
kathartischen Heilung des Gewissens vollends deformierter Identitäten:
zu Einem Laubengang gebogenen Linden. Die sich: Zum Schloss hin.
Strecken wie ausgehungerte Verkrüppelte die ihre: fäuste Schütteln
aber. Sie heben sich nun: empor. sie wissen. Dass es. an der Zeit ist
ärzte für die. Toten zu. finden, Robert, mein Kopf ist. Nicht mehr,
ohne Flügel heben wir. uns hinauf mein Freund tod denn: es ist.
Frühling.17
4.
Der Topos der Väterliteratur wird insbesondere dort viel versprechend
reinszeniert, wo die konventionellen Klischees seiner Darstellung
beharrlich vernachlässigt werden. Die Generation der Täter-Kinder bildet
dabei durch die Exekution der Aussparungstechnik, des narrativ
forcierten vieldeutigen Verschweigens vorausgesetzter Fakten zugleich
mit einem literarischen Programm mimetisch das Schweigen der Elterngeneration
ab, legt dieses durch die Akzentuierung auf die Folgen dieser
Verdrängungshaltung im familiären Gedächtnis der Generationen bloß
und installiert mithilfe von Ellipsen hinreichend selbstkritische Erzählinstanzen,
die sogleich selbst in das Schlaglicht ihrer Kritik geraten könnten.
Ein Befund indes wirkt frappierend: Man sollte meinen, derlei modifizierende
Aussparungen treten auf das Tapet, sobald sich die formalen
und inhaltlichen Muster der Gattung nachhaltig etabliert haben. Ror
Wolfs Text fungiert hier jedoch als Auftaktakkord des gesamten Korpus
der Väterliteratur schlechthin und kreiert schon zu diesem frühen Zeitpunkt
komplexe Figurationen genrebezogener Leerstellen. Was einen
zunächst in Erstaunen versetzen möchte, goutiert der passionierte
Wolf-Leser doch seinerseits mit einem viel sagenden Schweigen und
angedeutetem Kopfnicken: Ist eben Ror Wolf, war wohl nicht anders
zu erwarten.
Anmerkungen:
1 Ror Wolf, »Mitteilungen aus
dem Leben des Vaters«, in:
ders., Ausflug an den vorläufigen
Rand der Dinge, 1988, S. 69–78,
hier: S. 70
2 Ebd., S. 71
3 Ebd., S. 72 ff.
4 Ebd., S. 78
5 Vgl. Bettina Clausen,
»Der Heimkehrerroman«, in:
Mittelweg 36, 5, 1992, S. 57–70,
hier: S. 60–63
6 Hermann Peter Piwitt, Die
Gärten im März, 1979, S. 115
7 Vgl. ebd., S. 89; 122 f.; S. 199,
S. 213
8 Ebd., S. 134
9 Vgl. ebd., S. 69; S. 74; S. 82;
S. 96
10 Vgl. ebd., S. 179 f. Mit der
gleichen Sequenz hebt auch
Monikovás Prosastück Pavane
für eine verstorbene Infantin
(1983) an, wenngleich zur
bildlichen Pointierung ein
flüchtendes schwarzes Küken
addiert wird.
11 Vgl. Thomas Lehr, Frühling.
Novelle, 2001
12 Vgl. ebd., S. 122 ff.
13 Ebd., S. 108
14 Ebd., S. 81
15 Ebd., S. 137 f.
16 Ebd., S. 133
17 Ebd., S. 142
Kultur & Gespenster Nr. 3, 2007