21. Januar 2010

Polemiken und Gediegenes

 

Der sozial gewichtigste Platz für Philosophen in heutiger Zeit ist vermutlich ein Sitz in einer Ethikkommission. Aber will man da wirklich hin? Als Gesprächsmoderator zwischen Kirche und Medizin zum Beispiel? Das hätte weder Hegel noch Plato gereicht. Von Letzterem stammen immerhin Titel wie „Der Staat“ oder „Gesetze“. Das ist etwas mehr als die Teilnahme an einer Diskussionsrunde für einen vorbereitenden Vorschlag zu einem Gesetzesentwurf. Die früheren Philosophen waren berühmt. Manche auch berüchtigt. So auch Plato. Künstler etwa dürften ihn nicht sonderlich sympathisch finden, denn die Kunst in seinem Staat wären nicht frei, nicht autonom gewesen. Ethische und ästhetische Fragen waren nach Plato zusammenzudenken. Das war seine wohl nicht prästabilierte, aber doch anzuvisierende Harmonie. Künstler, die sich ihre eigenen Gesetze geben, laufen Gefahr, gegen diese Harmonie zu verstoßen.

 

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1932 geht der Kunstwissenschaftler Edgar Wind der Platonischen Kunstphilosophie nach und tut nichts Geringeres, als Verständnis dafür zu wecken, warum Plato ein dirigistisches Verhältnis zur Kunst unterhalten hat. Man kann diesen Versuch durchaus brisant nennen, bedenkt man die Zeit (1932) und die Situation der Kunst in dem einen oder anderen europäischen Land. Allerdings geht Wind nicht auf die zeitgenössische Situation ein, was ein wenig schade ist und dem Unterfangen einen leicht akademischen Anstrich verpasst. Was wirft Plato den Künstlern vor? Die Fähigkeit der Veränderung. Nicht nur von sich selbst, sondern auch und vor allem von denen, die mit der Kunst in Berührung kommen. Kunst wirkt nicht argumentativ, sie überspringt Distanzen, betört, berauscht, macht vergessen. Das wäre vielleicht noch nicht das Schlimmste; verderblich an der Kunst ist, dass sie kein Interesse daran zu haben scheint, Harmonie (wieder)herzustellen. Sie verfährt respektlos, ist latent asozial. Ob man nun diese Beschreibung als Verfallserscheinung von Kunst oder als ihr eigenes Wesensmerkmal festhält, sie hat es in beiden Fällen nicht leicht gegenüber Instanzen, die etwas Bestimmtes von ihr wollen. Edgar Wind führt Platos Klage vor, er unterstützt sie, aber es wird nicht die Frage aufgerollt, ob das denn auch wirklich so ist, nämlich ob Künstler gefährlich sind. Zu sehr bleibt Wind im Einzugsbereich von einem harmonischen (Staats)Modell, dessen Funktionsweise erst einmal vorgeführt werden müsste. Das Zugrundelegen einer solchen angeblichen Selbstverständlichkeit, nämlich dass alle Teilnehmer eines Staates auf Harmonie zu verpflichten sind, ist doch ziemlich gewagt und fordert ja gerade die Diskussion mit anderen Vorstellungen von Kunst heraus. Mit Lessing, Schiller und Goethe werden tatsächlich auch andere Konzepte vorgestellt, doch selber schon unter dem Titel des Niveauabfalls. Schade, dass Wind die Chance seiner Zeit nicht genutzt hat, die komplexe Situation der Kunst daraufhin zu befragen, wohin die zahllosen Ismen steuerten, worin ihre möglich Gefährlichkeit bestanden hätte und vor allem mit welchem jeweiligen Staat die Künstler zutun hatten.

 

Die Veränderung, vor der Plato warnte, hat stattgefunden. Aber geht sie auf das Konto der Kunst?

 

Die Frage der Ansteckung durch Kunst (im weiteren Sinn: durch Irrationalität) überträgt Wind vierzehn Jahre später, also ein Jahr nach Kriegsende, auf das Gebiet der Philosophie. In einer Polemik begreift er den französischen Schriftsteller und Philosophen Jean-Paul Sartre als einen „französischen Heidegger“. Die Polemik erwächst daraus, dass Wind Heidegger als nationalsozialistischen Philosophen liest, und nicht nur als Philosophen, der zufällig der Partei beigetreten war. Wind hatte seinerzeit in Freiburg sowohl Husserl als auch Heidegger gehört, und beiden unterstellt er einen Hang zum Dunklen, Geheimnisvollen. Gerade vor dem Hintergrund des Platonischen Harmoniegedankens ist Wind jede Art von Obskurantismus ein Gräuel. Das Negative, der Tod können und dürfen nicht der Anfang und das Ende der Philosophie sein. Wind schreibt: „Die Ablehnung von Klarheit, von Rationalität, von jedem harmonischen Sinn fürs Dasein als ,unauthentisch’ ist eine der perfidesten Spitzfindigkeiten, die Herr Sartre von Heidegger übernommen hat.“ Nicht, dass Wind Sartre für einen Nazi hält (Wind weiß, dass Sartre im Widerstand kämpfte), aber er, Sartre, sei „zugleich Opfer und Agent einer Verwirrung“. Fast will es scheinen, dass hier der Kulturwissenschaftler Edgar Wind sich auf die Seite seines (kunstgeschichtlichen) Gegners Wölfflin geschlagen hat, insofern Wind seine Argumentation ganz aus dem Gespann von Gegensätzen heraus entfaltet, die als unhistorisch zu brandmarken in anderen Zusammenhängen Wind nicht müde wird. Eine Polemik wird das „Phänomen“ Heidegger nicht beenden, und seine Philosophie als „Krankheit“ oder „Gift“ zu bezeichnen erinnert natürlich an eine damals gerade zu Ende gegangene Ära, die mit solchen und verwandten Termini ihr Glück versuchte und fürchterlich scheiterte.

 

Einen sehr schönen und auch heute noch sehr lesbaren Essay hat Wind über die englischen Maler Reynolds und Gainsborough geschrieben: „Humanitätsidee und heroisiertes Porträt in der englischen Kultur des 18. Jahrhunderts“. Hier zeigt Wind, wie souverän er die kulturellen Ereignisse der Zeit nicht nur zur Kenntnis genommen hat, sondern sie äußerst fruchtbar miteinander in Verbindung zu bringen vermag. Hier scheint auf, dass verschiedene Disziplinen wie Philosophie und Kunst nicht nur vor sich hindümpeln, sondern in ihrer jeweiligen Zeit von ähnlichen Fragestellungen heimgesucht werden, die je nach Fach eine unterschiedliche Lösung erfahren. Dieser Großessay ist ein Bravourstück intellektuellen Raffinements, der sich mit einem Etikett schmücken darf, das Wind als Kategorie immer abgelehnt hat: l’art pour l’art.

 

Dieter Wenk (01-2010)

 

Edgar Wind, Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hrsg. von John Michael Krois und Roberto Ohrt, Hamburg 2009 (Philo & Philo Fine Arts) Fundus 174

 

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