6. November 2003

Das Zucken der Bilder

 

Mitte der 60er Jahre holte Steve Reich mit seinen shifting voice patterns die minimal music heraus aus ihren etwas trögen, fernöstelnden und schon lange vergangenen Initialprovokationen eines La Monte Young. Die apokalyptischen Töne des Brother Walter im Union Square in San Francisco waren bei Reich um so besser zu hören, je weniger man von dem verstand, was der Pfingstprediger mitzuteilen hatte. Und das gelang einfach dadurch, dass zwei anfangs parallel laufende identische Loops, bestehend aus sprachlichen Sequenzen des Predigers, sich mit der Zeit auseinander entwickelten und am Ende ein semantisches Chaos aufgrund von white-noise-Verhältnissen produzierten. Wollte uns Steve Reich damals mit diesem Arrangement irgendetwas mitteilen? War das engagierte Kunst? Leute, das Ende der Welt ist nah! Wahrscheinlich war er einfach nur stolz, der minimal music ein bisschen mehr drive gegeben zu haben. Es war die Phase, wo minimal music die eigenartige Kombination aus Dramatik und Hypnose gelang, sei es mit den Speech-Tapes „It’s gonna rain“ und „Come out“, oder instrumental mit „Piano Phase“. Später hieß es dann leider, Philip Glass, übernehmen Sie!

Mit found footage arbeitet auch der Österreicher Martin Arnold, nur sind es hier nicht Stimmen, sondern Filmausschnitte aus mehr oder weniger bekannten Kinostreifen. Anders aber als bei der doch völlig humorlosen minimal music gibt es bei Arnold einiges zu lachen, und das Schöne ist, dass man die Vorlagen dazu nicht kennen muss. Eine Frau sitzt zu Hause im Wohnzimmer, eine Zeitschrift in der Hand, etwas später geht die Wohnungstür auf, und der Ehemann tritt herein, begrüßt seine Frau, die aufsteht und mit ihm den Bildraum verlässt. Eine Sequenz von vielleicht zehn Sekunden unter normalen Verhältnissen, hier, bei Arnold, dauert das Ganze 15 Minuten, und je länger das Spektakel dauert, desto herzlicher darf gelacht werden. Arnolds Hauptverfahren ist das Zurückdrehen des Films, sodass oftmals nur Kleinstausschnitte zigfach wiederholt werden, und in der Wiederholung besteht bekanntermaßen ein wichtiges Moment von Komik. Arnold blättert freilich an neuralgischen Punkten zurück, zum Beispiel, wenn die Hausfrau sich zu ihrem Mann umwendet, um ihn zu begrüßen, die künstliche Wiederholung aber gerade ein Kopfschütteln oder ein neurotisches Zucken produziert, das das Begrüßungsritual witzig unterläuft. Wunderbare, lustige, tänzerische, entlarvende, groteske Bewegungen stellt Arnold an seinem Schneidetisch her. Musik und Sprache erfahren die gleiche Behandlung. Und tatsächlich muss man die angehaltenen, kurz eingefrorenen und wieder zurückspringenden Gesichter sehen, damit auch der verfremdete Klang zur Komik beitragen kann. Ohne das würde man nur Kurioses hören. Erst auf dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Clichés, wie zum Beispiel dem der unterstellten Harmonie einer Kleinfamilie am Mittagstisch, können sich die brutal gekappten Sprechakte von Tochter und Sohn wie erlösende Klänge von Maschinengewehren ausnehmen. Der sanfte Terrorismus der Kunst als inszeniertes Kasperletheater.

 

Dieter Wenk

 

Martin Arnold, pièce touchée/passage à l’acte/Alone. Life Wastes Andy Hardy (1989-1998)