13. Januar 2010

Ausflug in die vierte Dimension

 

Der Kunsthistoriker Otto Stelzer konnte dem „Flaschentrockner“ Marcel Duchamps nichts Besonderes abgewinnen; das Publikum, so Stelzer, habe sich zu Unrecht skandalisiert gezeigt. Kunstphänomenologisch betrachtet fänden die Duchamp’schen Ready-Mades ihre Vorläufer zum Beispiel in den Menhiren als Ready-Mades der Natur. Nun wird sich nicht jeder Museumsbesucher an diese Art von Findlingen erinnert haben, und insofern geht das Skandalon schon ganz in Ordnung. Außerdem haben sich die Fabrikanten von Menhiren nicht unbedingt die Frage gestellt, was Kunst zu Kunst mache, ohne die (also die Frage) die Kunst von Duchamp schlechterdings unverständlich wäre. Aber ist sie überhaupt verständlich? Niklas Luhmann hatte auf das Risiko hingewiesen, das mit der Öffnung der Welt der Kunst in Richtung Alltagswelt verbunden sein würde. Seit Duchamp vermag man nicht mehr klar zu definieren, was Kunst sei oder zu ihr gehöre. Nur von daher ist die zunehmende Macht der Kunstinstitutionen zu verstehen, die als Bollwerk zu begreifen sind, jene Frage nicht mehr beantworten zu müssen.

 

Ursula Panhans-Bühler geht in ihrem Essay einen ganz anderen Weg. Sie interessiert sich nicht so sehr für die Frage nach dem Ende der Kunst etc., sondern wagt den Schritt einer magistralen Kommentierung von Äußerungen Marcel Duchamps selbst, über den trivialen Aspekt des Ready-Made-Haften hinweg. Dieser Text ist vielleicht keine Erleuchtung (das ist den vielen Konditionalen und Konjunktiven, den Mutmaßungen und Hypothesenbildungen geschuldet), aber er zeigt, was es heißt, etwas, und sei es noch so spekulativ, hirngeboren und erfahrungsresistent, in seiner eigenen Logik zu verfolgen bzw. diese Logik überhaupt erst einmal zu lancieren, und dann zu schauen, was sich daraus ergeben könnte. Die Autorin gibt sich von ihrem Auftritt her leichtfüßig, und doch mutet sie dem Leser eine barocke Welt zu, deren Aufbau sich jeder Anschaulichkeit entzieht.

 

Das hat vermutlich mit jener vierten Dimension zu tun, die der Untertitel zitiert (und die man grob mit „der Zeit“ bezeichnen kann). Man weiß, dass es Verbindungen Duchamps gibt zu Gaston de Pawlowskis « Voyage au pays de la quatrième dimension »; das eigentliche Sprungbrett der Überlegungen der Autorin geben aber Äußerungen Marcel Duchamps ab. Zum Beispiel diese hier (mit den Einschüben der Autorin): „Die Scharnierfläche der zwei 3D Räume versteckt sich“ (das kennen wir schon) „hinter dieser Linie, und der Eindruck ist offensichtlich für das Auge 3D, welches sich von rechts nach links versetzt, ohne jemals ein wenig“ (und hier folgt die einschränkende Klammer mit dem herausfordernden Fragezeichen) „von dieser Fläche zu erhaschen.“ Das Zitat ist zugegebenermaßen aus dem Zusammenhang gerissen, aber es zeigt andererseits ganz gut an, auf welchem Niveau ein Zusammenhang gesucht wird.

 

Panhans-Bühler nimmt die Äußerungen Duchamps absolut ernst in dem Sinne, als sie versucht, Duchamp nicht als frivolen Dadaisten fallen zu lassen. Das Buch liest sich wie die Rekonstruktion eines absurden Arguments (immerhin 160 Seiten), und das Mindeste, was sich bei der Lektüre oder beim Überfliegen über die Seiten einstellen wird, ist ein Respekt vor diesem Aufwand, dessen Relevanz und Nachvollziehbarkeit in den Sternen oder vielleicht in jener vierten Dimension stehen, die hier exploriert wird. Zu gerne hätte man deshalb das Gutachten gelesen, das aus diesem Essay eine Habilitationsschrift gemacht hat (Fachbereich Klassische Philologie und Kunstwissenschaften der Universität Frankfurt) – oder hätte machen sollen? Denn wo, wenn nicht in einer akademischen Würdigung, würde man Auskunft erlangen über den Erfolg des Panhans-Bühler’schen Anliegens.

 

So bleiben dem Leser nichts als Vermutungen, ob denn das alles mit rechten Dingen zugegangen sei oder ob er nicht doch gehörig verschaukelt worden ist. Aber von wem dann? Vom Produzenten, oder vom Erfüllungsgehilfen? Vielleicht sollte man erst mal richtig lernen, Schach zu spielen. Hier und nur hier liegt das Versagen (échec) dem Spiel von vornherein zu Grunde.

 

Dieter Wenk (01-2010)

 

Ursula Panhans-Bühler: Gegeben sei: die Gabe. Duchamps Flaschentrockner in der vierten Dimension, Hamburg 2009 (Philo Fine Arts), Fundus 176

 

www.return3d.de

 

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